Frankfurt a.M. – „Der Lehrkräftemangel an Grundschulen ist dramatisch. Eine aktuelle Abfrage der Landesverbände der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) zeigt: Bundesweit konnten an die 2.000 Stellen nicht besetzt werden. Dazu kommen mehrere Tausend Quer- und Seiteneinsteiger. Zudem sind rund 1.000 Schulleitungsstellen an Grundschulen nicht besetzt“, sagte GEW-Vorsitzende Marlis Tepe am Mittwoch in Frankfurt a.M. Mit Blick auf die heute veröffentlichte Studie „Lehrkräfte dringend gesucht – Bedarf und Angebot für die Primarstufe“ der Bildungswissenschaftler Dirk Zorn und Klaus Klemm betonte sie: „Der Lehrkräftemangel ist keine Eintagsfliege. Wenn jetzt nicht effektiv gegengesteuert wird, verschärft sich die Situation bis 2025, ja 2030 sogar noch.“
„Wir brauchen ein Maßnahmenbündel, das kurz-, mittel- und langfristig greift“, unterstrich Tepe. Die Kultusministerien müssten aktuell zusätzliche Quer- und Seiteneinsteiger werben, um die Lücken zu schließen. Dies sei der Preis dafür, dass über Jahre zu wenige Lehrkräfte für das Grundschullehramt ausgebildet worden seien. „Die Quer- und Seiteneinsteiger müssen sofort berufsbegleitend nachqualifiziert und durch Mentoringprogramme unterstützt werden. Dafür brauchen wir bundesweit einheitliche Standards“, erläuterte die GEW-Vorsitzende die Rahmenbedingungen für die Einstellung von Quer- und Seiteneinsteigern. „Die Lehrkräfte, in deren Schulen Quer- und Seiteneinsteiger ausgebildet werden, müssen entlastet werden. Nur so kann die Qualität des Unterrichts gesichert werden.“
„Zeitgleich müssen die Ausbildungskapazitäten für Lehrkräfte deutlich raufgefahren werden. Es ist vollkommen unverständlich, dass es noch Studiengänge für das Lehramt an Grundschulen gibt, die mit einem Numerus clausus (NC) belegt sind“, unterstrich Tepe. Damit mehr junge Menschen ein Lehramtsstudium aufnehmen, müsse der Beruf attraktiver gemacht werden. Dafür seien die Arbeitsbedingungen zu verbessern. „Dazu gehört auch, alle voll ausgebildeten Lehrkräfte nach A13 (Beamte) und E13 (Angestellte) zu bezahlen. Im Moment werden fast alle Lehrkräfte an Grundschulen deutlich schlechter bezahlt als ihre Kolleginnen und Kollegen an anderen Schularten –trotz gleichlanger Ausbildung und gleichwertiger Arbeit“, sagte die GEW-Vorsitzende.
Sie wies darauf hin, dass die Lehrkräfte von administrativen Aufgaben entlastet werden müssten: „Oft fehlt an der Schule die Sekretärin, so dass diese Aufgaben von Lehrkräften erledigt werden müssen. Ganz zu schweigen von einem IT-Systemadministrator. Den Lehrerinnen und Lehrern fehlt dann wiederum die Zeit, um die Schülerinnen und Schüler individuell zu unterstützen.“ Zudem brauchten die Schulen multiprofessionelle Teams. „Lehrkräfte sollen in Kooperation mit Schulsozialarbeitern, -pädagogen und -psychologen die aktuellen Anforderungen, die eine zunehmend heterogene Schülerschaft stellt, meistern“, unterstrich die GEW-Vorsitzende. „Wir müssen den aktuellen Lehrermangel bekämpfen und brauchen gleichzeitig einen qualitativen Ausbau der Grundschulen“, beschrieb Tepe die große Herausforderung, vor der Deutschland steht.
Neuere Schulstudien wie jüngst IGLU hätten gezeigt, dass die Bundesrepublik international den Anschluss zu verlieren droht. Deshalb brauche das Land „mehr Lehrkräfte als lediglich diejenigen, die den aktuellen Bedarf decken“. „Der geplante Rechtsanspruch auf einen Ganztagsplatz an Grundschulen, der pädagogisch sinnvoll ist und den die Eltern wollen, weist in die richtige Richtung. Zudem muss die Inklusion endlich materiell und personell so ausgestattet werden, dass die Umsetzung nicht allein den Lehrkräften aufgebürdet wird – was zurzeit zu Lasten eines qualitativ hochwertigen Angebots für die Schülerinnen und Schüler geht. Beides steht und fällt mit der Finanzierung der Projekte. Hier müssen CDU/CSU und SPD während der Koalitionsverhandlungen noch kräftig nachlegen“, sagte die GEW-Chefin mit Blick auf die bisher im Sondierungspapier veröffentlichten Zahlen.
Tepe hob hervor, dass der Lehrkräftemangel nicht allein die Grundschulen treffe. Auch wenn man berücksichtige, dass es regionale und schulartspezifische Unterschiede sowie Unsicherheiten bei längerfristigen Prognosen gibt, gelte: „Die Mangelsituation trifft alle Schulformen. Und: Sie ist nicht vom Himmel gefallen. Steigende Schülerzahlen und gleichzeitiges Anrollen der Pensionierungs- und Verrentungswelle sind seit langem bekannt. Schuldzuweisungen helfen aber jetzt nicht weiter.“ Die GEW-Vorsitzende bot der Kultusministerkonferenz (KMK) und den Kultusministerien die Zusammenarbeit mit der Bildungsgewerkschaft bei der Bekämpfung des Lehrkräftemangels an: „Brandenburg und Thüringen zeigen, dass und wie es gehen kann.“
Info: Die Begriffe Quereinsteiger und Seiteneinsteiger - sie werden in den Bundesländern unterschiedlich definiert - beschreiben Menschen, die in den Schuldienst kommen und in der Regel ein akademisches Fach studiert, aber keine Lehrerausbildung, also keine pädagogische Ausbildung, haben.