Praxisfragen
Grundsätzliches
Alle Lernenden (hierunter fallen Kitakinder, Schüler*innen, Studierende, Auszubildende) , darunter auch nicht-binäre, trans- und intergeschlechtliche Kinder und Jugendliche und junge Erwachsene, haben das Recht, über ihre Geschlechtsidentität, ihr Geschlecht und ihren Ausdruck des sozialen Geschlechts offen zu sprechen und zu entscheiden, mit wem, wann und wie viel private Informationen sie teilen möchten. Bildungseinrichtungen müssen zu jeder Zeit ein annehmendes und respektvolles Umfeld bereitstellen. Darüber hinaus können Lernende und Erziehungsberechtigte auch Unterstützung und tatkräftige Hilfe bei Organisationen und Beratungseinrichtungen suchen, die sich für sie einsetzen. Auch für Bildungseinrichtungen gibt es entsprechende Beratungsmöglichkeiten.
Lernende sollten mit den von ihnen bevorzugten Vornamen und den Pronomen angesprochen werden, die mit ihrer Geschlechtsidentität übereinstimmen.
In Bildungseinrichtungen sind keine Bescheinigung notwendig, um die Anrede zu verändern. Eine Bescheinigung, die sich im Alltag oft als hilfreich erweist, ist der sogenannte Ergänzungsausweis der Deutschen Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität (dgti). Auf diesem sind der neue Name und die Pronomen angegeben, und er hilft Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, sich auszuweisen, wenn die Personalpapiere noch nicht entsprechend geändert worden sind oder werden konnten. Beispiele sind Reisen im In- und Ausland, Kontrollen im öffentlichen Nahverkehr oder auch im Schulsekretariat, wenn der neue Name im Schüler*in-Ausweis und im Klassenbuch geführt werden soll.
Der Ergänzungsausweis ist dem Bundesministerium für Inneres bekannt, und es gibt eine Stellungnahme des BMI zur Ausstellung und Verwendung des Ergänzungsausweises auf der Website der dgti.
Im Hinblick auf alle Toiletten und Umkleideräume müssen Lernende Zugang zu den Einrichtungen haben, die ihrer Geschlechtsidentität entsprechen. Bildungseinrichtungen müssen (gesetzlich vorgeschrieben) Toiletten und Umkleideräume für männliche und weibliche Lernende bereithalten, die getrennt benutzt werden können. Den Schüler*innen sollte es aber grundsätzlich freistehen, die Einrichtungen auf der Grundlage ihrer Geschlechtsidentität zu wählen. Getrennte Nutzung kann auch nacheinander bedeuten, wie in Bahnen und Flugzeugen üblich. Daher können Einzelanlagen immer ohne Ausweisung des Geschlechts, d. h. für alle Geschlechter angeboten werden. In jeder Einrichtung kann daher geprüft werden, ob es Einzelanlagen gibt, die ggf. für die Nutzung durch alle frei gegeben werden könnten.
Bei jeder geschlechtsspezifischen Räumlichkeit sollte allen Lernenden, die sich in gemeinsam genutzten Räumen unwohl fühlen, unabhängig von den Ursachen hierfür eine sichere und nicht stigmatisierende Alternative angeboten werden. Bei der Bezeichnung für solcher Räume ist Kreativität gefragt. Von Lernenden darf nicht verlangt werden, dass sie geschlechtsspezifische Einrichtungen nutzen, die nicht ihrer Geschlechtsidentität entsprechen. Lösungen müssen daher sensibel, diskriminierungsfrei und von Fall zu Fall gemeinsam mit den Lernenden entlang der gegebenen Rahmenbedingungen gesucht und gefunden werden.
Sofern verfügbar sollten Bildungseinrichtungen bestimmte für die Nutzung durch eine Einzelperson vorgesehene Räumlichkeiten allen Schüler*innen unabhängig von ihrem sozialen Geschlecht zugänglich machen und solche für die Nutzung durch Einzelpersonen gedachte Einrichtungen bei Neubauten oder Renovierungsvorhaben einbeziehen. Allerdings dürfen Schüler*innen unter keinen Umständen allein aus dem Grund dazu aufgefordert werden, solche Räumlichkeiten zu nutzen, weil sie trans* oder inter* sind.
Transgeschlechtliche Lernende können auf Klassenfahrten (bzw. Kinder- und Jugendfahrten, Kurs- oder Studienfahrten, Bildungsexkursionen) gemäß ihrem Geschlecht untergebracht werden, sofern eine geschlechtergetrennte Unterbringung vorgesehen ist. Eine nach Geschlechtern getrennte Unterbringung bezieht sich i. d. R. auf § 180 StGB Förderung sexueller Handlungen Minderjähriger.
Dieser trifft jedoch dann nicht zu, wenn die Jugendlichen bereits 16 Jahre und älter sind. Grundsätzlich ist jedoch sogar eine gemischtgeschlechtliche Unterbringung möglich. Schulen müssen in jedem Fall ihrem pädagogischen und gesetzlichen Auftrag nachkommen, indem sie im Vorfeld MIT den Schüler*innen Regeln vereinbaren, mögliche Situationen ansprechen und dokumentieren, dass solche vorbeugenden Maßnahmen erfolgt sind (z. B. Eintrag im Klassenbuch). Eine getrennt geschlechtliche Unterbringung bezieht sich regelmäßig nur auf die Unterbindung heterosexueller Kontakte. Auch gleichgeschlechtliche Kontakte können z. B. zu sexuell übertragbaren Krankheiten führen. Insofern ist immer und unabhängig von der Unterbringungsart eine präventive Maßnahme geboten.
Transgeschlechtliche Lernende werden nach ihrem Comingout in ihrem gelebten Geschlecht behandelt. Es ist nicht nach dem vermuteten "biologischem Geschlecht" und dem gelebten Geschlecht zu unterscheiden. Das biologische Geschlecht bzw. Körpergeschlecht ist uns auch gar nicht bekannt, da wir lediglich den Geschlechtseintrag im Personenstand kennen, der bei der Geburt aufgrund des äußeren Anscheins festgelegt worden ist. Das "biologische Geschlecht" beruht aber auf sehr vielen Faktoren, die sich zudem im Lebensverlauf ändern. Daher sollten alle Schüler*innen nur solange allein nach ihrem Geschlechtseintrag (und nicht nach dem vermuteten "biologischen Geschlecht") behandelt werden, bis sie, respektive ihre Erziehungsberechtigten, uns etwas anderes mitteilen.
Die rechtliche Änderung des Geschlechtseintrages ist i. d. R. langwierig und auch kostspielig, daher sind bis dahin pädagogische Maßnahmen erforderlich. Das bedeutet, in der Schule soweit wie möglich nach dem Grundsatz der Selbstbestimmung zu verfahren und die Kinder und Jugendlichen auf ihrem ohnehin sehr herausfordernden Weg zu unterstützen.
Allen Lernenden und insbesondere trans* Lernenden muss es erlaubt sein, am Sportunterricht und an sportlichen Aktivitäten auf eine Weise teilzunehmen, die ihrer Geschlechtsidentität entspricht. Für nicht-binäre und inter* Schüler*innen mit Geschlechtseintrag divers wird empfohlen, dass diese im Falle eines geschlechtergetrennten Unterrichts entscheiden können, an welchem Unterricht sie teilnehmen.
Die Bewertung von Leistungen darf trans*, inter* und nicht-binäre Schüler*innen nicht benachteiligen. Die Leistungsbewertung im Fach Sport beruht auf mehreren Komponenten: einer sachlichen, der individuellen und der sozialen Bezugsnorm. Zu den sachlichen Kriterien gehören u. a. Normtabellen für die Einzeldisziplinen bzw. einzelne Fertigkeiten. Diese sind aktuell geschlechtlich binär (weiblich, männlich) angelegt, bis ggf. wissenschaftlich abgesicherte Normtabellen im Sport für die Bewertung von Personen mit Personenstand divers oder ohne Eintrag vorliegen. Eine AG der Kommission Sport der KMK empfiehlt zunächst Einzelfalllösungen bis zur Entwicklung einer tragfähigen Lösung. Der Senat Berlin vertritt z.B. die Position, dass ein inklusiver und integrativer Sportunterricht dazu beiträgt, Vorurteile und Barrieren zu überwinden. Für die Schulen bedeutet dies, organisatorische und pädagogische Maßnahmen zu prüfen und umzusetzen, um die Teilhabe trans*, inter* und nicht-binärer Kinder und Jugendlicher am Sportunterricht zu gewährleisten.
Die Zeit der geschlechtlichen Transition ist i. d. R. ohnehin psychisch sehr anstrengend und belastend. Trans* Schüler*innen sollten nach ihrem Coming-out mit den entsprechenden Normtabellen ihrer geschlechtlichen Identität bewertet werden. Grundsätzlich ist jedoch zu empfehlen, (in Absprache mit den Schüler*innen) für eine Übergangszeit weiterhin die zuvor geltende Normtabelle anzuwenden (Nachteilsausgleich). Manche Schüler*innen wünschen sich ausdrücklich die Bewertung gemäß ihrer Geschlechtsidentität. Andererseits sollte insbesondere transgeschlechtlichen Jungen/Männern angeboten werden, solange die Tabellen für Mädchen/Frauen zu verwenden, bis eine Hormonbehandlung (Testosteron) erfolgt.
In der Schule können Dokumente im Allgemeinen auf den von einer Person geführten Namen ausgestellt werden, auch wenn es nicht der amtliche Name ist. Dies kann in der Schüler*in-Akte dokumentiert werden und ist damit „aktenkundig“. Dies bezieht sich z. B. auf das Klassenbuch und auf Schüler*innen-Ausweise. Bei Letzteren ist zu beachten, ob diese für bestimmte Leistungen in Zusammenhang mit dem Personalausweis verwendet werden (z. B. im öffentlichen Nahverkehr). Dann kann die Diskrepanz mit dem dgti-Ergänzungsausweis „überbrückt“ werden (Deutsche Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität dgti e.V.).
Eine Schwierigkeit ergibt sich, wenn im Bundesland (z. B. gegenwärtige Praxis in Hamburg) die Schuldaten in einer zentralen Datenbank erfasst und die Daten mit den Meldedaten abgeglichen werden. Dies kann so weit gehen, dass sogar Vorname und Geschlechtseintrag auf Stimmigkeit überprüft und die Daten im System nicht händisch geändert werden können. Hier müssen Dokumente ggf. regelmäßig separat ausgestellt oder korrigiert werden, um eine angemessene Situation für transgeschlechtliche Schüler*innen herzustellen.
Einen besonderen Leidensdruck stellen regelmäßig die Zeugnisse dar, da diese i. d. R. auf den amtlichen Namen ausgestellt werden. Bezüglich der Zeugnisse gibt es unterschiedliche Rechtsauffassungen. Grundsätzlich gilt, dass Zeugnisse die Leistung einer Person dokumentieren (und nicht ihre Identität). Daher sei eine Ausstellung auf den geführten statt dem amtlichen Namen keine Urkundenfälschung – so ein aktuelles Rechtsgutachten. Tatsächlich ändern z. B. mittlerweile die meisten Banken, Versicherungen u. ä. Institute Vornamen und Geschlechtseinträge von Kund*innen nach Vorlage des dgti-Ergänzungsausweises auch vor der amtlichen Vornamens- und Personenstandsänderung.
Ein weiterer Aspekt ist die Neuausstellung von Zeugnissen nach erfolgter Vornamens- und Personenstandsänderung. Die betreffenden Personen dürfen nicht gezwungen sein, etwa bei der Bewerbung um einen Arbeitsplatz ihre Vergangenheit offenbaren zu müssen. Schulen sind oft unsicher, wie hier verfahren werden soll/darf. Vorhandene Ausführungsvorschriften in den Bundesländern sind oft nicht diskriminierungsfrei. Als gesetzlicher Ausdruck des grundrechtlichen Schutzes der Persönlichkeit normiert § 5 TSG ein gesetzliches Ausforschungs- und Offenbarungsverbot: Ist die Entscheidung, durch welche die Vornamen der antragstellenden Person geändert werden, rechtskräftig, so dürfen die vorherigen Vornamen ohne die Zustimmung der Person nicht offenbart oder ausgeforscht werden, es sei denn, dass besondere Gründe des öffentlichen Interesses dies erfordern oder ein rechtliches Interesse glaubhaft gemacht wird. Entsprechendes gilt für die Änderung des Geschlechtseintrags (vgl. § 10 Absatz 1 TSG i. V. m. § 5 TSG).
Solange die gesetzlichen Rahmenbedingungen im Namens- und Personenstandsrecht (TSG, BGB, PStG) unzufriedenstellend und unverändert sind, wird hilfsweise empfohlen, Zeugnisse und sonstige Befähigungsnachweise auf die neuen Vornamen und die neue Geschlechtszugehörigkeit als Zweitschrift neu auszustellen. Dies verlangen das Offenbarungsverbot und das Allgemeine Persönlichkeitsrecht der betroffenen Personen, die das Verfahren nach TSG in Anspruch genommen haben (Artikel 1 Absatz 1 GG i. V. m. Artikel 2 Absatz 1 GG). Spätestens durch Vorlage eines neuen Personalausweises bzw. einer neuen Geburtsurkunde können Personen belegen, dass ihr bisher geführter Namen oder ihr Geschlechtseintrag nicht ihrer Realität entsprechen und diesem Umstand amtlich Rechnung getragen wurde.