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Mehr Zeit, mehr Lehrer, mehr Fortbildung

Entscheidend für eine Entwicklung in Richtung eines inklusiven Bildungssystems sind nicht zuletzt die darin arbeitenden Pädagoginnen und Pädagogen. Was denken unsere Mitglieder? Für wie gut vorbereitet halten sie ihre eigene Einrichtung? Welche Vorbehalte oder auch welche Vorschläge haben sie? Dem ging die GEW in einer Online-Umfrage zum Thema Inklusion und zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention (BRK) nach.

Die meisten der GEW-Befragten sind über die Herausforderung der UN-Behindertenrechtskonvention (BRK) und über das Thema Inklusion informiert. Ein Viertel gibt an, den Unterschied zwischen Integration und Inklusion nicht erklären zu können. In allen Bundesländern herrscht indessen eine große Unkenntnis darüber, nach welchen ministeriellen Vorgaben die BRK umgesetzt werden soll. Neun von zehn GEW-Kollegen sind nicht oder kaum darüber informiert, was der Träger, das Kultusministerium oder das Land für die Realisierung tun will. Nur etwa jeder Zehnte weiß von Fortbildungsmaßnahmen zur individuellen Förderung, zum Umgang mit Heterogenität sowie von Maßnahmen, die auf die Praxis der BRK vorbereiten. Und schließlich vermuten 40 Prozent der Befragten, dass ihre Landesregierung lediglich Begriffskosmetik betreibe.

Der Rahmen muss stimmen

Trotz der Verunsicherung, die das Thema auslöst, befürworten mehr als 80 Prozent der GEW-Mitglieder inklusive Bildungseinrichtungen. Fast die Hälfte der Befragten stimmt völlig damit überein, ein Drittel ist eher verhalten. Ziel und Begründung von Inklusion sind in den Bildungsinstitutionen nur unzureichend präsent. Nur ein Drittel attestiert dem Kollegium oder Team ein inklusives Denken, noch seltener gilt dies für Gymnasien (elf Prozent) und berufsbildende Schulen (zwölf Prozent – s. Grafik 1).

Ob verhaltene oder entschiedene Zustimmung: Die Pädagoginnen und Pädagogen machen klar, dass entsprechende Rahmenbedingungen bereitstehen und sie adäquat vorbereitet sein müssen. Gut vorbereitet fühlt sich nur etwa jede zehnte Lehrkraft, knapp zwei Drittel lediglich etwas. Im Schnitt etwas mehr als ein Drittel arbeitet in Einrichtungen, in denen zusätzliches Personal für Menschen mit Behinderungen eingestellt worden ist. Drei Viertel der Befragten sind mit der personellen und finanziellen Ausstattung ihrer Schulen zur speziellen oder individuellen Förderung unzufrieden, in manchen Schulformen sind es sogar über 80 Prozent (s.Grafik 2).

Auch der bauliche Zustand der Gebäude setzt der Förderung Grenzen. Vor allem physisch beeinträchtigte Lernende müssen enorme Probleme bewältigen: Nur ein Viertel der Einrichtungen ist laut Auskunft der GEW-Mitglieder völlig barrierefrei. Bedenkt man die etwas überproportionale Beteiligung von Sonderschul-Lehrkräften an der Umfrage, würde dieser Wert für die Regelschulen wohl noch schlechter ausfallen.

Die Lehrenden äußern allerdings sehr klar, was ihre Schule brauche, um mit der Vielfalt der Lernenden umgehen zu können: zusätzliche Fachkräfte, mehr Zeit, kleinere Klassen bzw. Gruppen, eine andere Gebäude-Architektur, stimmige pädagogische Konzepte, gutes Lernmaterial sowie Fortbildung.

Freilich zeigen sich in der GEW-Befragung auch Unterschiede zwischen den Schulformen. Die Lehrkräfte in Grund- und Integrierten Gesamtschulen berichten mehr als doppelt so oft wie andere davon, dass sie bereits gute Erfahrungen mit dem gemeinsamen Lernen von Kindern mit und ohne Behinderung haben. Sie kennen sehr viel häufiger pädagogische Konzepte zur individuellen Förderung und beobachten an ihren Schulformen eine große Aufgeschlossenheit gegenüber einem inklusiven Schulwesen. Am wenigsten scheint das Lernen von jungen Menschen mit Behinderungen oder Beeinträchtigungen am Gymnasium fortgeschritten zu sein. Nur drei Prozent der Kolleginnen und Kollegen dieser Schulart fühlen sich auf die neuen Herausforderungen vorbereitet (Durchschnitt: zehn Prozent).

Erhebliche Unterschiede gibt es auch bei der individuellen Förderung, die bislang nahezu ausschließlich als Domäne der Förderschulen gelten kann. Fast 90 Prozent der Befragten an Förderschulen arbeiten in ihrer Einrichtung nach einem abgestimmten Konzept zur individuellen Förderung, gefolgt von Integrierten Gesamtschulen (64 Prozent) und Grundschulen (56 Prozent). An Gymnasien und Realschulen berichtet dies nur ein Drittel, an beruflichen Schulen sogar nur ein Viertel (s.Grafik 3).

Mehr als inklusive Bildung

Die GEW ist überzeugt, dass inklusive Bildung eine inklusive Gesellschaft und ein „inklusives Denken“ braucht, um sich gut entwickeln zu können. Inklusion beruht auf einer klaren Vorstellung von „Menschenwürde“ und unveräußerlichen Grundrechten. Sie muss weit in die Gemeinden und das Zusammenleben hineinwirken. Wenn die soziale Spaltung der Gesellschaft zunimmt, hat es inklusive Bildung schwerer.

Nur zirka 30 Prozent der Befragten berichten, dass sich ihre Schule für ein besseres Zusammenleben im Stadtteil engagiert. Knapp zwei Drittel denken, dass unser selektives SchulsystemInklusion behindere. Entsprechend sind viele sehr (26 Prozent) oder eher (54 Prozent) skeptisch, wenn es darum geht, ein inklusives System zu realisieren. Gründe für diese Skepsis sind auch das fehlende Vertrauen in die Landesregierungen und Träger der Einrichtungen sowie die unzureichende Information. So bewerten nur 7,5 Prozent die geplanten offiziellen Maßnahmen als völlig oder eher zielführend und gut. Fast die Hälfte teilt diese Ansicht nicht und fast ebenso viele haben gar keine Meinung, weil ihnen die Pläne der Politik nicht bekannt sind.

Eine schulformspezifische Teilauswertung der Antworten macht deutlich, wo das Gros der Kompetenzen im Umgang mit der Vielfalt der Lernenden zu finden ist: in den Förder-, Grund- und Integrierten Gesamtschulen. Es bedarf indessen großer Anstrengungen, um alle Beschäftigten im Bildungswesen zu überzeugten und engagierten Inklusionspädagogen zu machen. Die GEW will die Diskussion über das professionelle Selbstverständnis weiter führen.

Eine Orientierung hierzu könnte die Erklärung der Bildungsinternationale (BI) zum Berufsethos von Pädagoginnen und Pädagogen sein.** Allerdings: Gute Rahmenbedingungen und gut ausgebildete Lehrerinnen und Lehrer sind Qualitätskriterien für inklusive Bildung. Und sie sind im Interesse der Lernenden.

Die GEW will ihren Beitrag dazu leisten, dass Inklusion zumStandard in den Bildungseinrichtungen der Bundesrepublik Deutschland werden kann.

Marianne Demmer, Leiterin des GEW-Organisationsbereichs Schule,
Martina Schmerr, Referentin im selben


Die GEW dankt allen Beteiligten, die sich die Zeit zum Ausfüllen des Fragebogens genommen haben, und Gundula Kienel-Hemicker für die erste Auswertung der Studie sowie für die Erstellung der Grafiken.