Inklusion ja - aber nicht für alle
Das Recht auf inklusive Bildung gilt für alle Kinder. Ausgerechnet das bisherige Inklusions-Musterland Bremen plant nun jedoch Ausnahmen für Kinder und Jugendliche mit emotionalen und sozialen Entwicklungsproblemen. Ein fatales politisches Signal, findet Brigitte Schumann.
Das Recht auf inklusive Bildung gilt auch für Kinder und Jugendliche mit emotionalen und sozialen Entwicklungsproblemen. Dass ausgerechnet das Land Bremen mit seiner Vorreiterrolle bei der Umsetzung der Behindertenrechtskonvention dieses Recht für diese Gruppe nachträglich per Gesetz einschränken will, ist ein fatales politisches Signal an alle anderen Bundesländer, die ihrer Verantwortung für das Gelingen der Inklusion bislang nicht nachkommen.
Aber auch bestehende gesellschaftliche Vorbehalte und Ressentiments gegenüber verhaltensschwierigen Kindern und Jugendlichen, die allzu schnell zu einer Gefahr für andere erklärt und ausgegrenzt werden, werden damit bestätigt. Ablehnende Haltungen in den Lehrerzimmern werden verstärkt. Neben der wichtigen Forderung der GEW Bremen "Inklusion finanzieren, statt beschneiden" muss es deshalb auch die politische Forderung nach einem Bewusstseinswandel gegenüber diesen besonders verletzlichen Kindern geben.
Niemand will sie eigentlich haben
In der Wahrnehmung von Lehrerinnen und Lehrern gelten Kinder und Jugendliche mit störendem Verhalten wahrlich nicht als Bereicherung für den Unterricht, sondern eher als Belastung für Mitschüler/innen und Lehrkraft. Die Vorstellung, dass auch für Schülerinnen und Schüler mit sozial auffälligen, aggressiven Verhaltensweisen die allgemeinen Schulen mit ihren meist großen Klassen und der Vielzahl von Problemen zum Regelförderort werden sollen, beunruhigt die Lehrerkollegien. Zumal die Bundesländer es an konkreter Unterstützung für die Schulen fehlen lassen. Zeigt nicht außerdem der Schulalltag, dass schon ein einziger schwieriger Schüler - meistens ist er ja männlich - den gesamten Unterricht "auseinandernehmen" kann? Internationale Studien bestätigen, dass diese Gruppe nicht nur bei deutschen Lehrerinnen und Lehrern als besonders schwer integrierbar gilt. Auch Eltern haben Zweifel und Ängste, wenn sie sich vorstellen, dass ihr Kind gemeinsam mit Kindern lernt, die zu aggressivem und gewalttätigem Verhalten neigen, wie eine Befragung von Prof. Klaus Tillmann aus jüngster Zeit ergeben hat. Bei den Peers sind sie auch nicht besonders beliebt. Kurz, niemand will sie eigentlich haben.
Förderschulen sind keine Lösung
Weder in der öffentlichen Meinung noch in Lehrerzimmern werden Förderschulen mit dem Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung als Auffangmöglichkeit für diese Gruppe kritisch hinterfragt und infrage gestellt. Im Gegenteil, die Exklusionsquote der Kinder und Jugendlichen mit emotionalen und sozialen Entwicklungsstörungen ist in den letzten Jahren dramatisch angestiegen. Dabei müsste es eigentlich jedem unmittelbar einleuchten, dass Kinder und Jugendliche mit erheblichen emotionalen und sozialen Verhaltensproblemen sich wechselseitig in ihrem Sozial- und Leistungsverhalten negativ beeinflussen, wenn sie ausschließlich unter sich bleiben. Es gibt dementsprechend auch keine statistischen Belege, dass einer nennenswerten Zahl von Schülerinnen und Schülern die Rückkehr in das allgemeine Schulsystem gelingt. Bezüglich der Schulleistungen können auch aktuelle Studien von Prof. Klaus Klemm keinen Nachweis erbringen, dass der Förderschulbesuch zu erfolgreichen Schulabschlüssen führt.
Bewusstseins- und Mentalitätswandel ist gefragt
Hinter der Ablehnung von Kindern mit aggressiven und destruktiven Verhaltensweisen verbirgt sich nicht selten die Vorstellung, dass diese selbst das Problem sind. Sie werden nur als "schwierige Kinder" und nicht als "Kinder mit Schwierigkeiten" und massiven Lebensproblemen wahrgenommen. Mit dieser personenbezogenen Sichtweise werden die Ursachen für Verhaltensauffälligkeiten, für Aggression und Gewalttätigkeit unmittelbar den Betroffenen selbst zugeschrieben.
Damit lassen sich auch in Schulen gesellschaftliche, familiäre und schulische Kontextfaktoren für auffälliges Verhalten ausblenden. Die Gefahr besteht besonders dann, wenn Lehrerinnen und Lehrer zu wenig über die konkreten ökonomischen, sozialen, psychischen und gesundheitlichen Erschwernisse von Familien in prekären Lebenslagen wissen, aus der Kinder mit emotionalen Entwicklungsproblemen meistens kommen. Lehrpersonen, die von dem Konstrukt des "schwierigen Kindes" ausgehen, haben mit dem "Fehlverhalten" auch nur insofern etwas zu tun, als sie das störende Verhalten ertragen müssen, ursächlich oder beziehungsmäßig halten sie sich für vollkommen unbeteiligt. Ihre pädagogischen Maßnahmen zielen folglich darauf, allein das Verhalten des Schülers oder der Schülerin zu verändern. Scheitern sie damit, liegt auch die Ursache dafür bei dem oder der Betroffenen. Die Förderschule hat es dann zu richten.Hinter Destruktion und Aggression verbergen sich Bindungs- und Beziehungsmangel. Die Neurowissenschaft hat nachgewiesen, dass "der Wunsch, sozial akzeptiert und in einer Gemeinschaft integriert zu sein, ein zentrales menschliches Triebziel darstellt", so der Neurologe Prof. Joachim Bauer. Die Konstruktion des Gehirns ist auf Zusammenhalt, Fairness und Kooperation ausgelegt. "Zu kooperieren, anderen zu helfen und Gerechtigkeit walten zu lassen, ist eine global anzutreffende, biologisch verankerte Grundmotivation des Menschen", sagt Bauer.
Aggression ist demzufolge ein reaktives Verhaltensprogramm, das bei Gefahren anspringt, um Schmerz abzuwehren und körperliche Unversehrtheit zu bewahren. Neurobiologische Experimente haben zur Erkenntnis geführt, dass soziale Zurückweisung, Ausgrenzung und Verachtung aus Sicht des Gehirns wie körperlicher Schmerz wahrgenommen werden. "Wenn die Schmerzgrenze eines Lebewesens tangiert wird, kommt es zur Aktivierung des Aggressionsapparates und zu aggressivem Verhalten."
Kinder und Jugendliche mit aggressivem Verhalten wachsen häufig in überforderten Familien in prekären Lagen auf, wo sie wenig Zuwendung erfahren und keine Bindung und kein Vertrauen entwickeln können. Diese Kinder haben ein großes Anerkennungsdefizit und ein schwachen Selbstwertgefühl. Sie sind besonders verletzlich und entwicklungsgefährdet. Ihre persönliche Schmerzgrenze in Alltagssituationen ist schneller erreicht als die von Menschen, die diesen Mangel nicht erlitten haben. Hier wird deutlich, wie unerlässlich begleitende Hilfen für Kinder und Eltern in sozial benachteiligten Lebenslagen besonders in den ersten Jahren der frühkindlichen Entwicklung als protektive Maßnahmen sind.
Dieser systemische Ansatz eröffnet auch Pädagogen eine andere Sicht und ermöglicht Lehrerinnen und Lehrern mit verhaltensschwierigen Schülerinnen und Schülern anders umzugehen. Sie werden in Störungen nicht automatisch einen Angriff auf den Unterricht oder ihre Person sehen, sondern diese auch als Ausdruck massiver Schwierigkeiten interpretieren können, die ein Kind mit sich und der (Um-)Welt hat. Diese Sicht schafft erst die notwendige Grundlage für eine Schüler-Lehrer-Beziehung, in der das Kind bzw. der Jugendliche mit familiärer, schulischer und gesellschaftlicher Belastung Vertrauen fasst, sich angenommen fühlt und sich entwickeln kann.
"Nichts ist ohne Kontext"
Diese Aussage ist gleichzeitig auch der Titel eines Buches von Prof. Winfried Palmowski, in dem er für eine systemische Pädagogik eintritt. Der systemische Grundgedanke geht davon aus, dass der Sinn von Verhalten erst im Kontext deutlich wird. Systemische Pädagogik richtet ihre Aufmerksamkeit auf Beziehung und deren Muster und schließt damit auch Schule und Lehrerverhalten ein.
Wenn Schulen sich nicht für das Wohlergehen und die soziale Teilhabe aller Kinder am Schulleben verantwortlich fühlen, Pädagogen zu wenig Aufmerksamkeit auf die soziale Beziehungskultur legen, Motivation und Leistungsorientierung bei Kindern voraussetzen, statt diese individuell zu fördern, defizitorientierte Leistungsrückmeldungen erteilen, dann tangieren sie die Schmerzgrenze der verletzlichen Kinder. Insofern müssen sich Bildungseinrichtungen darauf selbst befragen, ob sie Aggression, Destruktivität und Schulverweigerung institutionell begünstigen und wie sie sicherstellen können, dass ein Klima der sozialen Zugehörigkeit für alle gewährleistet ist.
Für das deutsche Schulsystem ist hinlänglich nachgewiesen, dass die schulstrukturell verankerten Selektionsmechanismen eine Vielzahl von Beschämungs- und Diskriminierungstatbeständen hervorrufen. Schlechte Noten, Klassenwiederholungen, Abschulungen, Förderschulzuweisungen treffen vor allem die Kinder, die besonders verletzlich sind. Schon sehr früh werden sie im Schulverlauf zu Versagern, Schulverweigerern und Außenseitern, wo sie doch so dringend den Zuspruch gebraucht hätten, dass sie so, wie sie sind, dazu gehören. Einmal mehr zeigt sich, dass die Transformation des gegliederten Schulsystems zu einer Schule für alle nicht ausgeklammert werden darf, wenn das Ziel der Inklusion gelingen soll. Nicht zuletzt ist es die schulische Selektionsfunktion, die Lehrerinnen und Lehrer darin behindert, Verhaltensstörungen als Beziehungs- und Kommunikationsstörungen zu erfassen und herauszufinden, was das Thema des verletzlichen Kindes ist.
Grundlagen für gemeinsames Lernen schaffen!
In einer von Prof. Ulf Preuss-Lausitz geleiteten interdisziplinären Studie über die integrative Förderung von verhaltensauffälligen Kindern wurde über eine mehrjährige Erhebung im Auftrag der Berliner Senatsverwaltung die Praxis in Berlin erforscht. Dort erfolgt die sonderpädagogische Förderung im Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung ganz überwiegend innerhalb der allgemeinen Schulen. Der 2005 veröffentlichte Forschungsbericht über das Projekt unterstreicht, dass der Berliner Weg mit dem Verzicht auf Förderschule eine richtige Entscheidung ist. Die Förderung verhaltensschwieriger Schülerinnen und Schüler an allgemeinen Schulen muss allerdings begleitet werden durch systemisch angelegte pädagogische und bildungspolitische Maßnahmen.
Die Studie unterstreicht die Bedeutung der Schule als "verhaltensförderlicher Lernort" mit einem "entwicklungsförderlichen Unterricht". Der Unterricht sollte von einem Verständnis ausgehen, dass Verhaltensschwierigkeiten als Beziehungs- und Kommunikationsstörungen begriffen werden müssen. Er sollte geprägt sein von Qualitätskriterien, die schülerorientiertes, differenziertes Lernen mit klaren Aufgabenstellungen und in strukturierten Abläufen ermöglichen. Er sollte immer auch die Förderung von Freundschaften und Peerbeziehungen einbeziehen. Empfohlen werden jahrgangsübergreifende Lerngruppen, da sie den Blick auf das einzelne Kind und seine Bedürfnisse stärken und den Erwerb von Hilfsbereitschaft und Verantwortungsübernahme in der Gruppe fördern.
Die Studie stellt die positiven Effekte der Doppelbesetzung für die Verringerung von Unterrichtsstörungen und die Verstärkung von aufgabenbezogenem Verhalten heraus. Für den Primarbereich werden Klassenfrequenzen von nicht über 20, im Sekundarbereich von nicht über 25 empfohlen, da sie das Klassenklima positiv beeinflussen.
Schulen brauchen Unterstützung durch ein sozialpädagogisches Angebot, um Schülerinnen und Schülern in Krisensituationen Möglichkeiten zur kurzfristigen Entspannung durch eine Trennung vom Klassenunterricht zu ermöglichen. Empfohlen wird z.B. die Einrichtung von Schulstationen oder Schülerclubs.
Besonderes Augenmerk legt die Studie darauf, dass die Schulen mit allen Hilfereinrichtungen und Diensten vernetzt sind, die die Situation der verhaltensauffälligen Kinder unter Einbeziehung des familiären Umfeldes verbessern helfen. Dafür sind multiprofessionelle regionale Beratungs- und Unterstützungszentren einzurichten, die Schulen in ihrer inklusiven Schulentwicklung mit konzeptionellem Know-How begleiten, Lehrerinnen und Lehrer fortbilden und beraten, Schülerinnen und Schüler sowie deren Eltern bei der Konfliktbewältigung mit einer ganzheitlichen Hilfeplanung unterstützen und konkrete Hilfen bei notwendiger Krisen- und Gewaltintervention anbieten und umsetzen. Dabei sollte immer gelten, dass auch bei extremen Problemen, die eine temporäre Therapie und Betreuung außerhalb der Schule notwendig machen, die Kinder und Jugendlichen immer Schülerinnen und Schüler ihrer Schule bleiben.
Die Politik muss Verantwortung übernehmen
Es mehren sich Stimmen von sonderpädagogischen Wissenschaftern, die die Abschaffung von Förderschulen im Zuge inklusiver Schulentwicklung zu einem voreiligen bis verantwortungslosen Unternehmen erklären. Bezogen auf die Gruppe der Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten fordern die Professoren Ellinger und Stein in einem aktuellen Aufsatz: "Vor einer verantwortungsvollen Abschaffung spezifischer Förderorte für Kinder und Jugendliche mit Förderbedarf in ihrer emotionalen und sozialen Entwicklung stehen dringend sorgfältige empirische Untersuchungen an." Diese Forderung zielt auf eine Abwertung wissenschaftlicher integrationspädagogischer Studien über positive Effekte des gemeinsamen Lernens bei Kindern mit Verhaltensschwierigkeiten. Sie verschweigt auch das geringe Interesse der Sonderpädagogik an empirischer Forschung zur Realität der Förderschule und verkennt die neue Rechtssituation durch die UN-BRK.
Um mit Hubert Hüppe, dem Beauftragten der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen, zu sprechen: Es geht bei der Inklusion nicht mehr um das Ob, sondern nur noch um das Wie. Für angemessene Rahmenbedingungen bei Ressourcen und Strukturen sowie für den notwendigen Bewusstseinswandel trägt die Politik Verantwortung. Beides ist aufs engste miteinander verbunden. Wer die angemessenen bildungspolitischen Rahmenbedingungen verweigert, sorgt dafür, dass die Gegner der Inklusion mit ihren Einwänden Recht haben und ein eher inklusionsfeindliches gesellschaftliches Klima bestimmen.
Der Artikel ist zuerst erschienen auf www.bildungsklick.de
Literatur:
Bauer, J.: Schmerzgrenze. Vom Ursprung alltäglicher und globaler Gewalt. München 2011
Ellinger, S./Stein, R.: Effekte inklusiver Beschulung: Forschungsstand im Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung. In: Empirische Sonderpädagogik 2/ 2012
Palmowski, W.: Nichts ist ohne Kontext. Systemische Pädagogik bei "Verhaltensauffälligkeiten". Dortmund 2007
Preuss-Lausitz, U. (Hrsg.): Verhaltensauffällige Kinder integrieren. Zur Förderung der emotionalen und sozialen Entwicklung. Weinheim und Basel 2005
Die Autorin:
Dr. Brigitte Schumann war 16 Jahre Lehrerin an einem Gymnasium, zehn Jahre Bildungspolitikerin und Mitglied des Landtags von NRW. Der Titel ihrer Dissertation lautete: "Ich schäme mich ja so!" - Die Sonderschule für Lernbehinderte als "Schonraumfalle" (Bad Heilbrunn 2007). Derzeit ist Brigitte Schumann als Bildungsjournalistin tätig.