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Lehrkräftemangel

Zuckerbrot und Peitsche

Bayern geht mit untauglichen Mitteln gegen den Unterrichtsausfall vor: Das Kultusministerium hat den Grundschullehrkräften eine zusätzliche Unterrichtsstunde verordnet. Andere Länder versuchen es mit Anreizen für die Beschäftigten.

In der GEW organisierte Lehrkräfte protestierten Anfang Februar gegen die vom bayerischen Kultusministerium angekündigte Mehrarbeit. (Foto: GEW Bayern)

Hunderte Lehrerinnen und Lehrer trafen sich Mitte Februar vor dem bayerischen Kultusministerium in München und überreichten Protestpostkarten gegen die verfügten Zwang-Vorgriffsstunden. Der Hintergrund: Nach den Weihnachtsferien wurden alle Lehrkräfte an bayerischen Grundschulen von einem Schreiben des Kultusministers Michael Piazolo (Freie Wähler) überrascht, in dem ihnen dieser mitteilte, dass ab dem kommenden Schuljahr ein verpflichtendes „Arbeitszeitkonto“ eingeführt werde – die Unterrichtspflichtzeit werde „vorübergehend“ um eine Stunde erhöht, die Rückgabe der Arbeitszeit sei garantiert. Außerdem will das Ministerium an Grund-, Mittel- und Förderschulen beamtenrechtliche „Spielräume enger fassen“. Antragsruhestand und Sabbatjahre sollen nicht mehr genehmigt werden, bei „Antragsteilzeit“ (nicht „familienpolitisch“ begründet) wird das „Mindeststundenmaß“, das Lehrkräfte unterrichten müssen, von 21 auf 24 Wochenstunden angehoben (Vollzeit entspricht 28 Wochenstunden).

Anders als Mitte der 1990er-Jahre, als eine Welle von Pflichtstundenanhebungen nach und nach alle Bundesländer erfasste, hat das Beispiel Bayerns bislang noch nicht Schule gemacht. Das könnte auch damit zusammenhängen, dass die GEW-Arbeitszeitstudie in Niedersachsen aus dem Jahr 2016 gezeigt hat, dass vollzeitbeschäftigte Lehrkräfte durchschnittlich bereits heute viel länger arbeiten als die für Beamtinnen und Beamte geltende Sollarbeitszeit.

Entlastung für Ältere

Da über 40 Prozent der verbeamteten und über 50 Prozent der tarifbeschäftigten Lehrkräfte in Teilzeit arbeiten, ist es nicht unplausibel, die voll ausgebildeten Lehrkräfte, die in der Schule arbeiten, mehr unterrichten zu lassen statt auf Quer- und Seiteneinsteiger auszuweichen. Die GEW setzt sich dafür ein, dass den Lehrkräften ein Aufstocken ihrer Teilzeitstellen nicht verordnet wird, sondern sie dies freiwillig machen. Die Ministerien wären gut beraten, sich die Gründe anzuschauen, warum Lehrkräfte in Teilzeit gehen. Hier anzusetzen und gezielt Entlastung zu schaffen, ist der richtige Weg; weniger nicht-unterrichtliche Aufgaben, Unterstützung bei der Pflegearbeit oder Kinderbetreuung sind gute Beispiele dafür, was die Ministerien tun könnten. Doch solche Maßnahmen werden nicht ergriffen.

Baden-Württemberg probiert es im kommenden Schuljahr mit einem „freiwilligen Vorgriffsstundenmodell“ – drei Jahre je eine Stunde mehr unterrichten, nach weiteren drei Jahren für drei Jahre eine Unterrichtsstunde weniger. Einen besonderen Anreiz bietet das Land allerdings nicht, weshalb die GEW Baden-Württemberg das Modell auch für „einen Tropfen auf den heißen Stein“ hält. Da ist das Modell in Sachsen schon attraktiver. Dort gibt es für Mehrarbeit von der ersten Stunde an einen Zeitzuschlag von 25 Prozent: Das bedeutet bei vier Stunden Mehrarbeit fünf Stunden „abfeiern“.

Auch wenn formal noch kein Bundesland so weit gegangen ist wie Bayern, berichten die GEW-Personalräte aus vielen Bundesländern, dass die Genehmigungspraxis bei Teilzeit- und Beurlaubungsanträgen im Schuldienst tendenziell restriktiver geworden sei. In Hessen und Nordrhein-Westfalen (NRW) soll die nicht familienpolitisch begründete Teilzeit gar nicht mehr genehmigt werden.

Als weitere Maßnahme, mehr ausgebildete Lehrkräfte zu gewinnen, versuchen fast alle Bundesländer, ältere Kolleginnen und Kollegen zu animieren, weiter zu unterrichten. Für Beamtinnen und Beamte wurden die Hinzuverdienstgrenzen angehoben oder ganz aufgehoben, sie bekommen zusätzlich zum Ruhegehalt einen Angestelltenvertrag. Bei renten- oder pensionsnahen Lehrkräften reicht die Spanne von Zuckerbrot bis Peitsche: Bayern will einerseits einen vorgezogenen Ruhestand mit 64 Jahren grundsätzlich nicht mehr genehmigen, lockt andererseits aber mit drei zusätzlichen Stunden weniger Unterrichtsverpflichtung pro Woche, wenn Lehrkräfte noch über die Regelaltersgrenze hinaus weiterarbeiten. Berlin zahlt den Lehrkräften, die ihren Ruhestand hinausschieben, eine Zulage von 20 Prozent.

Ohnehin scheint sich die Erkenntnis durchzusetzen, dass eine Altersermäßigung für Lehrkräfte für das Gesamtsystem Schule unter dem Strich nicht weniger, sondern sogar mehr Unterricht bedeuten kann – nämlich dann, wenn weniger Lehrkräfte vorzeitig ausscheiden. Sachsen hat eine dritte Ermäßigungsstunde ab dem 63. Lebensjahr eingeführt. Für künftige Jahrgänge (die ihre erste Ermäßigungsstunde erst ab 58 Jahren bekommen statt wie früher ab 55) greift die dritte Stunde sogar schon ab 61. Auch in Mecklenburg-Vorpommern müssen die Lehrkräfte ab 63 Jahren neuerdings zwei Deputatsstunden weniger unterrichten.

Während es im Süden und Westen noch immer „überzählige“ Absolventen des gymnasialen Lehramts gibt, denen ein Laufbahnwechsel an Grund- oder Förderschulen angeboten wird, sind die Bundesländer im Norden und Osten, vor allem aber der stark wachsende Stadtstaat Berlin dabei, ihre Quer- und Seiteneinsteiger-Programme auszubauen.

Daneben unterrichtet an den Schulen eine weitere Gruppe, die meist aus dem Blickfeld gerät: Vertretungslehrkräfte. Oft stehen den Schulen oder Schulämtern Mittel zur Verfügung, mit denen sie kurzfristig Personal einstellen können, um Unterrichtsausfall zu vermeiden. Für diese Menschen bietet kein Bundesland vorab oder berufsbegleitend eine Qualifizierung an. Wie viele Kolleginnen und Kollegen mit welcher Qualifikation sich dahinter verbergen, wird selten systematisch erfasst. Eine Ausnahme ist Hessen. Aus der Antwort der Landesregierung auf eine parlamentarische Anfrage geht hervor, dass im Februar 2017 von den befristet Beschäftigten an Hessens Schulen knapp 60 Prozent keinen Lehramtsabschluss hatten. Die „Befristeten“ machten damals 7 Prozent aller Lehrkräfte aus. Seither ist ihr Anteil weiter gestiegen.

Mehr Quereinsteiger

Besonders dramatisch ist die Situation in Sachsen. Für die Grundschulen stehen neben den 960 Seiteneinsteigern in der berufsbegleitenden Qualifizierung – das sind schon mehr als 10 Prozent der aktiven Lehrkräfte! – Vertretungsmittel im Umfang von weiteren 1.144 Vollzeitstellen bereit (6,75 Millionen Euro).

Ein steigender Anteil nicht voll qualifizierter Kolleginnen und Kollegen ist für die Lehrkräfte in der Schule mit zusätzlichen Belastungen verbunden, da sie die „Neuen“ unterstützen und einarbeiten müssen. In einigen Bundesländern haben die Arbeitgeber dies inzwischen eingesehen. So erhalten Schulen in Mecklenburg-Vorpommern und Bremen je Seiteneinsteiger im ersten Jahr eine Anrechnungsstunde, in Berlin gibt es auf Druck der GEW inzwischen sogar zwei Mentorenstunden. Noch immer gibt es jedoch viele Bundesländer, die für die Betreuung von Quer- und Seiteneinsteigern keine zeitliche Entlastung bereitstellen.

Ähnlich sieht es bei der Betreuung von Lehrkräften im Vorbereitungsdienst aus, was angesichts der erfreulicherweise steigenden Zulassungszahlen ebenfalls skandalös ist. Während die Schulen in Rheinland-Pfalz und Mecklenburg-Vorpommern traditionell zwei Anrechnungsstunden pro Anwärterin und Anwärter erhalten, in Baden-Württemberg immerhin 1,5 und in Sachsen eine Stunde, gibt es in NRW und Berlin gar nichts. Hessen gesteht den Schulen erst seit 2019 eine halbe Stunde je Nachwuchslehrkraft und Fach zu.