Von den tristen Hochhäusern sind es, vorbei an mehreren Billig-Discountern, nur ein paar Schritte. Neben der Schnellstraße in Darmstadt-Eberstadt lugt zwischen Bäumen ein rot-weiß-gestreiftes Zelt hervor: der Circus Waldoni. In einem Zirkuswagen aus Holz trinken Mütter Kaffee, während ihre Kinder in der Turnhalle trainieren. Der sechsjährige Karl trippelt mit winzigen Schritten auf einer großen, roten Kugel. „Mich muss niemand festhalten“, ruft der Junge stolz. Daneben balanciert Emilia in weißen Schläppchen und rosa Herzchen-Strumpfhose etwas wacklig über ein dünnes Drahtseil. Als sie herunterhüpft, lacht sie – und springt weiter zu einer dicken, blauen Turnmatte. Dort üben die Kinder eine Rolle rückwärts und Rad schlagen.
Im Brennpunktviertel Eberstadt-Süd trainieren jede Woche etwa 500 Kinder und Jugendliche. „Wir wollen, dass vor allem sozial benachteiligte Kinder eine Chance bekommen“, sagt Trainerin Kirsten Kunschke. Deshalb bietet das Team auch in der Wilhelm-Hauff-Grundschule in Eberstadt Projekttage und Arbeitsgemeinschaften an. Für die vierten Klassen steht einmal pro Woche Zirkus statt Sport auf dem Stundenplan. Außerdem gibt es Ferienkurse und Freizeitangebote auf dem Zirkusgelände. Die Kleinsten kommen jede Woche mit dem ihrem Kindergarten anmarschiert. Die Trainerin ist überzeugt, dass Zirkus allen Kindern guttut. „Zirkus ist kein Wettkampfsport“, betont Kunschke. Jede und jeder werde durch den eigenen Ehrgeiz angespornt.
„Die Kinder und Jugendlichen erleben: Wenn sie üben, erreichen sie etwas.“ (Zirkusdirektor Hans-Günter Bartel)
Auch der Geschäftsführer des gemeinnützigen Vereins Circus Projekt Waldoni e.V., Hans-Günter Bartel, hebt das Miteinander hervor. Egal, ob jemand den Vorhang öffnet oder mit Bällen jongliert: Alle seien gleich wichtig. Beim Training rollen Kinder auf einem Einrad umher, schwingen sich aufs Trapez, tänzeln übers Seil. Kurzum: Sie lernen alles, was es für eine Vorstellung in der Manege braucht. Zwölf Disziplinen stehen auf dem Programm. Doch dahinter steckt viel mehr: „Zirkus macht stark“, sagt Bartel. Die Kinder entdeckten ungeahnte Fähigkeiten – und entwickelten ein beachtliches Selbstbewusstsein. „Daran sieht man, dass es gar keine Noten braucht“, meint der Pädagoge. Alle Mädchen und Jungen kämen aus Spaß.
Der Umgang mit Frust gehört allerdings auch dazu. Beim Jonglieren zum Beispiel plumpsen die Bälle am Anfang ständig runter, die Kinder müssen sich bücken, es wieder und wieder probieren. Irgendwann klappt es. „Die Kinder und Jugendlichen erleben: Wenn sie üben, erreichen sie etwas“, betont Bartel. Ihre Kunststücke führen sie einmal im Jahr im Zirkuszelt vor Publikum auf – und bekommen Applaus. „Dadurch erleben sie Wertschätzung“, sagt der Zirkusdirektor. „Das hilft ihnen auch dabei, in der Schule zurechtzukommen.“
Das Zirkusprojekt versteht sich vor allem als Sozialprojekt. Die Finanzierung der für die Teilnehmenden überwiegend kostenfreien Angebote sei heikel, sagt der Geschäftsführer. Der Verein ist Träger der Jugendhilfe; Fördermittel müssten stets neu beantragt werden. Ihre Arbeit sei auf Spenden und Sponsoren angewiesen. Dabei werde der positive Effekt von Zirkusprojekten immer stärker wahrgenommen, auch bundesweit. An vielen Schulen gebe es mittlerweile solche Angebote.
Auf die Idee kam Bartel vor 25 Jahren. Als Klassenlehrer an einer Waldorfschule, der unter anderem Sport unterrichtete, beobachtete er, dass viele Schülerinnen und Schüler kaum noch Werfen, Fangen oder Balancieren können. Grund sei, dass Bewegungsräume verloren gehen. „Einfach rausgehen und spielen, so etwas gibt es nicht mehr“, sagt Bartel. „Die Kinder werden von A nach B gefahren. Alles ist geordnet.“ Zirkus biete viele Bewegungsmöglichkeiten: Jonglage, Balance, Akrobatik.
„Wir arbeiten in einem sozial benachteiligten Stadtteil, aber wir sind offen für alle. Hier geht es kreuz und quer durcheinander.“ (Bartel)
Deshalb absolvierte Bartel neben seinem Beruf eine zweijährige Ausbildung zum Zirkuspädagogen und trainierte mit seiner Klasse. Bereits bei der ersten Aufführung in der Turnhalle war die Begeisterung groß. Aus dem Klassen- wurde ein Schulprojekt; und schon bald fragte eine Kollegin einer anderen Schule, ob ihre Schülerinnen und Schüler mitmachen könnten. „Sofort war klar, wie wichtig das ist“, sagt der Pädagoge. Jeden Nachmittag bot ein Team fortan Zirkus zum Mitmachen auf dem Schulhof an. Bald darauf bekam der Circus Waldoni mit seinem Zelt einen festen Standort in der Nachbarschaft. „Wir arbeiten in einem sozial benachteiligten Stadtteil“, so Bartel, „aber wir sind offen für alle. Hier geht es kreuz und quer durcheinander.“
Trainerin Kunschke erzählt, bei den meisten Kindern wisse sie nur wenig über deren Hintergrund. Das sei auch gut so. „Ich nehme sie, wie sie kommen.“ Allerdings seien mitunter Kinder dabei, die das Training schwierig machten. Sie hielten sich nicht an Regeln, könnten nicht abwarten, bis sie an der Reihe sind, störten die anderen. In so einem Fall setze sie sich mit den Eltern zusammen, sagt sie: „Wir versuchen herauszufinden, wie wir das Problem lösen können.“ Manchmal brauche es dafür sehr viel Zeit. Doch die meisten Kinder realisierten, wie gut ihnen der Zirkus tut. „Viele Jugendliche aus dem Viertel wachsen richtig mit dem Zirkus zusammen“, berichtet Kunschke. Nicht wenige machten später selbst eine pädagogische Zirkusausbildung und unterrichteten den Nachwuchs.
Allerdings weiß Bartel auch, dass Zirkus für Jungen in der Pubertät nicht uneingeschränkt reizvoll ist: „Schminken und Kostüme sind nicht cool genug.“ Deshalb gibt es auf dem Gelände auch eine Bildhauerwerkstatt. Dort schweißen Förderschüler aus Schrott rostige Ritter und Fabelwesen. Der 65-Jährige selbst steht für sein Leben gern in der Manege, begrüßt in Frack und Zylinder das Publikum. Auch die siebenjährige Johanna, mit Zahnlücke und Blumenshirt kann es kaum erwarten, ihre Kunststücke „im echten Zelt“ vorzuführen. Das Mädchen spaziert beim Training freihändig übers Drahtseil, die Arme weit ausgebreitet.