100 Jahre Betriebsrätegesetz
Zeit für ein Update
Vor 100 Jahren starteten die ersten Betriebsräte. Den Arbeiterräten ging ihr Einfluss allerdings nicht weit genug, die Kapitalseite lehnte sie strikt ab. Trotzdem begann mit dem Betriebsrätegesetz eine Erfolgsstory.
Schweinfurt in Unterfranken, Sommer 1919: Seit Mai arbeitet ein 15-köpfiger Betriebsrat für die rund 2.000 Beschäftigten in der Ersten Automatischen Gußstahlkugelfabrik & Cie, später FAG Kugelfischer, heute Teil der Schaeffler-Gruppe. Spitzname: Kufi.
Ein anderer Schauplatz, an dem es auch um mehr Arbeiterrechte ging, war im August des gleichen Jahres die Nationalversammlung im Reichstag in Berlin. Nach Streiks kam endlich das erste Betriebsrätegesetz (BRG) auf die Tagesordnung der Nationalversammlung. Schlussendlich trat es dann am 4. Februar 1920 in Kraft. Artikel 165 der Weimarer Verfassung hatte bestimmt, dass Betriebsräte „gleichberechtigt in Gemeinschaft mit den Unternehmern an der Regelung der Lohn- und Arbeitsbedingungen sowie an der gesamten wirtschaftlichen Entwicklung der produktiven Kräfte mitzuwirken“ haben. Was unter „Mitwirkung“ konkret zu verstehen war, sollte das BRG regeln.
Natürlich verfolgte der neu gewählte Betriebsrat in Schweinfurt die Debatten in Berlin. Im ersten Jahr nach Ende des Ersten Weltkriegs hatte er allerdings alle Hände voll damit zu tun, das Notwendigste im Betrieb zu organisieren. Die sofort eingesetzte Ernährungskommission kämpfte gegen die katastrophale Lebensmittelversorgung der Arbeiter.
Konfliktfrei war selbst das nicht. Laut Protokoll kritisierte der Betriebsrat, dass die ausgelieferte Butter nicht immer bei den Arbeitern ankam. Die Überprüfung ergab, dass sie nur teilweise in die richtigen Hände gelangte: „… der Rest an die vier Herren (Direktoren) verteilt worden ist“, vermerkt das Protokoll der Sitzung. Die Ansage von Firmenchef Kommerzienrat Georg Schäfer, „der um Aussage in diesem Fall gebeten wurde“, lautete „die Butter stehe den Arbeitern nicht zu“. In der Niederschrift der Sitzung heißt es später: Der Betriebsrat wolle eine weitere Lieferung abwarten, um „dann weitere Schritte zu tun, damit uns nicht auch noch diese Butter verloren geht“.
Absage an Rätekonzept
Den Schweinfurter Betriebsrat trieb die Sorge um, dass die Zusage in der Weimarer Verfassung, die wirtschaftliche Mitbestimmung für die Arbeiter umzusetzen, sich letztendlich in Luft auflösen würde. Deshalb sympathisierten die Schweinfurter mit der „Reichszentrale der revolutionären Betriebsräte“, die sich als Teil der USPD verstand. Über diesen „politischen Arm“ versuchten sie, Einfluss auf die parlamentarischen Verhandlungen zu nehmen. Was aber letztlich erfolglos blieb.
In Berlin wurde der Gesetzentwurf zum BRG erstmals im August 1919 beraten. Zuvor hatten die Freien Gewerkschaften auf ihrer Vorständekonferenz dem Konzept der Arbeiterräte eine Absage erteilt und einen eigenen Mitbestimmungsplan erarbeitet. Der fand auf dem Gründungskongress des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB) im Juli 1919 mehrheitlich Zustimmung. Für das erste Betriebsrätegesetz war damit der Weg frei.
Am 13. Januar 1920, dem Tag der geplanten Verabschiedung des BRG, kam es zu Massenprotesten. Hunderttausende demonstrierten vor dem Reichstag. Sie sahen in dem Gesetz den endgültigen Abgesang an die Idee einer umfassenden wirtschaftlichen Mitbestimmung. Gegen 16 Uhr schoss die Sicherheitspolizei auf Demonstranten. So nahm die blutigste Demonstration in der deutschen Geschichte ihren Lauf. Am Ende gab es 42 Tote und 105 Verletzte. Die Verhandlungen der Nationalversammlung wurden abgebrochen. Das Gesetz fand in der darauf folgenden Woche, am 18. Januar 1920, eine deutliche Mehrheit im Parlament.
Betriebsräte sollten sich aus der Wirtschaftspolitik raushalten und sich auf das Unternehmen, in dem sie gewählt sind, konzentrieren. Paragraf 66 BRG machte dazu eine klare Ansage: „Der Betriebsrat hat die Aufgabe: in Betrieben mit wirtschaftlichen Zwecken die Betriebsleitung durch Rat zu unterstützen, um dadurch mit ihr für einen möglichst hohen Stand und für möglichste Wirtschaftlichkeit der Betriebsleitung zu sorgen.“ An anderer Stelle wurden sie aufgefordert, „den Betrieb vor Erschütterungen zu bewahren“. Die Interessenvertretung sollte zusätzlich darauf achten, dass Maßnahmen, die das Gemeinwohl schädigten, von beiden Seiten, Unternehmen wie Arbeitern, zu unterlassen sind.
Angst vor Eskalation
Für die Historikerin Andrea Rehling, Geschäftsführerin des Jakob-Fugger-Zentrums in Augsburg, schlägt sich in diesen Regelungen die Angst vor nicht beherrschbaren Konflikten nieder, „die man für höchst desintegrierend und keinesfalls nützlich hielt“. Oberstes Ziel jeder politischen Maßnahme zu dieser Zeit war es, „die Ordnung zu erhalten bzw. wieder herzustellen“.
Dass nach der Entscheidung für ein BRG in Berlin ein anderer Wind in den Betrieben wehte, merkten auch die Betriebsräte bei Kugelfischer. Die gerade erkämpften Rechte sollten auf einmal nicht mehr gelten. So stellte sich das Direktorium der FAG auf den Standpunkt, für die während der Arbeitszeit notwendige Betriebsratsarbeit „keine Vergütung mehr zu gewähren“. Außerdem änderte die Firma einfach die Arbeitszeitregelungen, ohne den Betriebsrat zu beteiligen oder zu informieren. Erst nach Protesten und einer Abstimmung in der Belegschaft bei einer Betriebsversammlung konnte der Betriebsrat bei den Arbeitszeiten wieder mitbestimmen.
Das Ende der Weimarer Republik 13 Jahre später bedeutete auch das Ende für die erste Betriebsdemokratie und damit die letzte funktionierende demokratische Institution der Weimarer Republik.
- • Arbeitszeit, Schichtplan und Überstunden
- • Eingruppierung, Leistungsentgelt und Akkord
- • Einstellung und Kündigung
- • Aus- und Weiterbildung
- • Unfallverhütung, Gesundheits- und Umweltschutz
- • Arbeitsabläufen und Gestaltung der Arbeitsplätze
Erneuter Handlungsbedarf
Und wie steht es heute, 2020 im Jubiläumsjahr, um das Betriebsrätegesetz, das jetzt Betriebsverfassungsgesetz heißt? 1952 kam es im Bundestag zur Grundlegung der Arbeitnehmerrechte im Betrieb, wobei weitgehend das Gesetz von 1920 in die Betriebsverfassung (BetrVG) einfloss. 1972 und 2001 beschloss das Parlament weitere Änderungen, die aber die Regelungen in ihrer Substanz nicht veränderten.
Knapp 20 Jahre nach der letzten Novelle gibt es erneut Handlungsbedarf. So fordert der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) ein härteres Vorgehen gegen Unternehmen, die Betriebsratsarbeit behindern. „Wir erleben, dass sich immer mehr Unternehmen zu betriebsratsfreien Zonen erklären wollen“, sagt der DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann.
Die Fakten bestätigen ihn. Zwar machen die Bestandszahlen durchaus immer noch was her: Nach Schätzungen des DGB sind rund 180.000 Betriebsräte in 28.000 Betrieben aktiv. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) hat aber für 2016 ermittelt, dass es in nur 9 Prozent der Betriebe einen Betriebsrat gibt. Tendenz fallend. Es sind vor allem die kleinen und mittleren Betriebe, die keine Interessenvertretung haben. In Großbetrieben mit über 500 Beschäftigten sieht es besser aus: 82 Prozent im Westen und sogar 95 Prozent im Osten haben einen Betriebsrat. Der Anteil der Beschäftigten insgesamt, die durch einen Betriebsrat vertreten sind, liegt bei 41 Prozent.
Handlungsbedarf ergibt sich auch aus der Digitalisierung. „Überall, wo es Auswirkungen auf Arbeitsabläufe und -bedingungen gibt, brauchen wir die Mitbestimmung“, fordert der DGB-Chef. Die entwickeltste Programmatik zu diesem Thema hat zurzeit die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mit ihrer Bundestags-Initiative: „Digitalisierung – Update für die Mitbestimmung“ vorgelegt. Die Grünen zeigen, wie moderne Beteiligungsrechte von Betriebsräten aussehen könnten.