Beitrag für die read.me, GEW-Zeitung für Studierenden, Wintersemester 2018/19
Die feministische Aktivistin und Politikwissenschaftlerin Tebessüm Yılmaz erklärt im Interview, wie wichtig das Bewusstsein für die prekäre Situation von Studierenden in der Türkei ist.
Tebessüm Yılmaz: Zwar wurde der Ausnahmezustand nun offiziell aufgehoben, jedoch beobachten wir eine Normalisierung der Gesetze des Ausnahmezustands, weshalb wir nicht von einer Verminderung der Repressionen ausgehen können. Nichtsdestotrotz ist der Wille zum Widerstand nicht gebrochen. Der Einzug oppositioneller Parteien in das Parlament nach erfolgreichen Kampagnen zu den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Juni 2018 war ein kleiner Triumph, obwohl viele Abgeordnete noch immer inhaftiert sind. Was erfolgreichen Widerstand betrifft, wird dieser zu einem sehr großen Teil von den starken Frauen- und LGBTI-Bewegungen (LGBTI ist ein Sammelbegriff und steht für Lesbian Gay Bisexual Trans Intersex[-People]) getragen. Gerade sie sind diejenigen, die durch große Demonstrationen eine starke Präsenz zeigen und viele Kampagnen in Solidarität mit Kurdistan organisiert haben.
GEW: Die GEW versucht, sich für die Academics-for-Peace-Unterzeichner*innen einzusetzen und die Sichtbarmachung ihrer Umstände und Forderungen zu unterstützen. Trotz dieser Bemühungen scheint kaum Bewusstsein für die große Anzahl der Studierenden und Promovierenden (838 der 2212 Erstunterzeichner*innen) zu bestehen.
Wie unterscheidet sich die Lage der Wissenschaftler*innen von der der Studierenden, die unterschrieben haben?
Tebessüm Yılmaz: Die fehlenden Sichtbarkeiten haben sich bereits innerhalb der Academics for Peace hervorgetan; untereinander gab es kaum Bewusstsein für die unterschiedlichen Machtverhältnisse in der Gruppe. Hausdurchsuchungen und Übergriffe betrafen beispielsweise zuerst die Wissenschaftler*innen. Gleichzeitig gab es keinen Austausch und kein Wissen über die Anzahl von studentischen Unterzeichner*innen und die Disziplinarmaßnahmen und polizeilichen Untersuchungen gegen sie. Diese Unsichtbarkeiten haben auch unsere Ankunft an deutsche Universitäten erheblich erschwert, da beispielsweise fast alle Stipendien explizit Wissenschaftler*innen fördern und nicht die Studierenden und Promovend*innen, die auf solch eine Unterstützung angewiesen wären.
GEW: Auch was die Verhaftungswellen in der Türkei betrifft, hört man vorrangig von Anwält*innen, Journalist*innen, Politiker*innen und Akademiker*innen, obwohl Schätzungen zufolge 70.000 Studierende und Schüler*innen inhaftiert sind und sie somit fast ein Drittel aller Strafgefangenen ausmachen.
Was kannst du als aktives Mitglied von TÖDA (Tutuklu Öğrencilerle Dayanışma Ağı), dem 2015 gegründeten Solidaritätsnetzwerk für inhaftierte Studierende, zu den gesetzlichen Grundlagen sagen, die der türkische Staat nutzt, um Studierende reihenweise zu verhaften?
Tebessüm Yılmaz: Im Grunde erfahren Studierende und Promovend*innen hauptsächlich die gleichen zwei Anschuldigungen wie auch die Wissenschaftler*innen: „Teil einer terroristischen Organisation zu sein“ oder „terroristische Propaganda zu verbreiten“. Aber auch einfach nur Flyer zu verteilen und an Demonstrationen teilzunehmen kann genügen, um jahrelang ohne Anhörung inhaftiert zu werden. Eines der gravierendsten Probleme für inhaftierte Studierende stellt eine neue gesetzliche Regelung dar, wonach Inhaftierte keine Universitätsprüfungen mehr ablegen dürfen und ihnen somit jede Chance, einen Abschluss zu erlangen, verbaut wird.
GEW: Welche politische Bedrohung stellen die Studierenden deiner Meinung nach für den Status quo der Türkei dar?
Tebessüm Yılmaz: Im Türkischen gibt es ein Sprichwort: „Yılanın başı küçükken ezilmeli“ („Den Kopf der Schlange muss man zerdrücken, solange er noch klein ist“). Im Grunde ist das die Taktik, die der türkische Staat umzusetzen versucht, und das nicht erst, seit die AKP-Regierung an der Macht ist. Aufgrund von sehr blutigen Auseinandersetzungen zwischen linken und rechten Gruppierungen seit den 1960er Jahren gibt es in der Türkei derartige Gesetze und Regelungen. Dass der Staat dabei linke Bewegungen zerschlägt und nicht rechts-konservative, spricht für sich, denke ich. Außerdem versucht die Regierung so effektiv wie möglich jede Form von kurdischen Bewegungen zu zerschlagen.
GEW: Siehst Du eine Notwendigkeit und Möglichkeit für transnationale Solidarität zwischen Studierenden aus Deutschland und der Türkei?
Tebessüm Yılmaz: Definitiv. Denn jedes Mal, wenn ich über die Umstände von Studierenden in der Türkei berichte, sind alle schockiert, da es weder hier noch in der Türkei eine öffentliche Diskussion darüber gibt. Daher müssen politische Gruppen und gewerkschaftliche Hochschulgruppen aktiv werden und in einen Dialog treten. Je nach Handlungsspielräumen und Ressourcen kann Solidarität geübt werden, die kein hierarchischer, gemeinnütziger Akt ist, sondern ein Netzwerk auf Augenhöhe. Beispielsweise sind Studierende in Deutschland eher flexibel und mobil, was sehr hilfreich sein kann. Die Solidarisierung von Studierenden ist eine unabdingbare Grundlage, um eine Sichtbarkeit und ein Bewusstsein zu schaffen und hoffentlich auch Veränderungen herbeizuführen.
Tebessüm Yılmaz promoviert derzeit an der Humboldt-Universität zu Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen Kurdish Studies, Critical Gender Studies, Memory Studies und Visual Sociology. Yılmaz ist ein aktives Mitglied der Academics for Peace Turkey, Wissenschaftlerinnen für den Frieden – Deutschland e. V., Kampüssüzler (Academics with no Campuses) sowie von Tutuklu Öğrencilerle Dayanışma Ağı Kadin Inisiyatifi (Women’s Initiative for the Solidarity Network for Detained Students).
Das Interview führte Bilge Cömert. Sie studiert Politikwissenschaft und Soziologie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main und ist derzeit als studentische Mitarbeiterin beim GEW-Hauptvorstand tätig.
* „Den Kopf der Schlange muss man zerdrücken, solange er noch klein ist“