Zum Inhalt springen

Krise der Demokratie

Wunsch nach mehr Beteiligung

In Corona-Zeiten fühlten sich Kinder und Jugendliche in ihrem Eindruck bestärkt, bei politischen Entscheidungen eine zu geringe Rolle zu spielen, sagt die Kindheits- und Jugendforscherin Prof. Sabine Andresen von der Uni Frankfurt am Main.

Die Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie haben Heranwachsende besonders stark getroffen. (Foto: iStock/FilippoBacci)
  • E&W: Warum fühlen sich Kinder und Jugendliche häufig nicht ernst genommen?

Prof. Sabine Andresen: Unsere Kindheits- und Jugendstudien JuCo und KiCo belegen tatsächlich, dass Kinder und Jugendliche sich kaum gehört, gesehen und beteiligt fühlen. Die Pandemie hat das noch einmal ganz deutlich gemacht. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer an unseren Befragungen zu Corona seit 2020 kritisieren, dass ihnen wenig angeboten wurde, um eigene Ängste, Verunsicherungen und Zukunftssorgen sichtbar zu machen. Bis zum Ukraine-Krieg beherrschte die Pandemie die öffentliche Diskussion und unseren Alltag, doch für Jugendliche relevante Themen fanden kaum Aufmerksamkeit.

  • E&W: Können Sie ein Beispiel nennen?

Andresen: Bezeichnend ist für mich ein Kommentar aus der zweiten Jugendbefragung Ende des Jahres 2020, der die Zerrissenheit der Jugendlichen dokumentiert: „Vielen geht es psychisch nicht gut und manchmal weiß ich nach einer Nachricht oder einem Anruf nicht, ob sie die nächste Nacht überstehen werden. Dann sitze ich da und hoffe. Hoffe, dass ich nicht eigentlich hätte zu diesen Personen fahren müssen, dass ich mich richtig entscheide, zu Hause sitzen bleibe, niemanden ,gefährde‘. Wir jungen Menschen versuchen, glaube ich, ganz verzweifelt, alles richtig zu machen, verantwortungsvoll zu handeln.“ Mit diesen Zweifeln und Sorgen wurden diese Jugendlichen und alle anderen, denen es ähnlich ging, alleine gelassen. Aufmerksamkeit fanden nur diejenigen, die Regeln brachen, sich trotz Kontaktbeschränkungen und Lockdown öffentlich trafen.

  • E&W: Was hätte die Politik anders machen können?

Andresen: Sie hätte die Organe der Schülerinnen und Schüler anhören sollen, hätte beispielsweise fragen können: Wie geht es Euch und Euren Freundinnen und Freunden, wenn Ihr Euch und Eure Bezugspersonen nicht in der Schule seht. Sie hätte fragen können, wie man den Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen gerecht werden kann und welche Unterstützung sie sich wünschen.

  • E&W: Warum wurden die Fragen nicht gestellt?

Andresen: Das Vorgehen der Politik ist häufig von der kränkenden Unterstellung bestimmt, Kinder und Jugendliche würden sich irrational verhalten. Man könne, so ist immer wieder zu hören, nicht darauf vertrauen, dass sie gut abwägen und vernünftig handeln können. Doch gerade die Covid-19-Pandemie beweist, in welch hohem Maß Kinder und Jugendliche in der Lage sind, ihr Verhalten eigenverantwortlich zu regulieren. Schon vor Corona haben Studien belegt, dass Kinder und Jugendliche sich nicht ernst genommen und einbezogen fühlen.

  • E&W: Das fördert natürlich den Vertrauensverlust, der aber sicher seinen Ursprung nicht in der Pandemie hat.

Andresen: Richtig. Die Pandemie verstärkt „nur“ die ernüchternde Erkenntnis. Kinder und Jugendliche haben sehr deutlich registriert, dass die Parteien sich in der Vergangenheit mehrheitlich geweigert haben, Kinder- und Jugendrechte im Grundgesetz zu verankern. Mit der neuen Bundesregierung wird es hoffentlich zu einem Sinneswandel kommen. Es muss darum gehen, dass das Kindeswohl vorrangig berücksichtigt und Beteiligung überall möglich wird. Die neue Regierung wird sich daran messen lassen müssen.

  • E&W: Und genau diese Beteiligung wünschen sich die jungen Menschen?

Andresen: Die Jugend vermisst ein echtes und langfristiges Interesse an sich und die Bereitschaft, gehört und beachtet zu werden. Sie misst die Politik daran, ob und wie sie diese Beteiligung ermöglicht und auf allen Ebenen etabliert. Dies aber erfordert Zeit und materielle Ressourcen für Beteiligungsprozesse sowie die Bereitschaft, Macht und Kontrolle zu teilen.

  • E&W: Partizipation schreiben sich mittlerweile viele, wenn nicht sogar die meisten Schulen auf ihre -Fahnen. Angesichts der Realität im Alltag ein überflüssiges Engagement?

Andresen: Auf keinen Fall, denn es ist wichtig, das Bewusstsein für Beteiligung bei jungen Menschen zu schärfen. So lernen sie frühzeitig, andere Meinungen ernst zu nehmen, andere zu fragen, nicht über die Köpfe anderer hinweg Entscheidungen zu treffen. Vielleicht ist das sogar die Basis dafür, dass sich mit langem Atem und nachwachsenden Generationen auch Politik verändert. Viele der heute aktiven Politikerinnen und Politiker können sich ja noch gut daran erinnern, dass sie als Kinder und Jugendliche das tun mussten, was ihnen die Erwachsenen gesagt haben. Jugend ernst zu nehmen, ist eine Frage der Haltung und des Respekts. Die Vorstellung, dass Kinder und Jugendliche mehr sind als nur ein Teil von „etwas“, nämlich der Familie, hat sich offenbar ebenfalls noch nicht durchgesetzt.

  • E&W: Was können die an Schule Tätigen, aber auch Eltern in der aktuellen Situation konkret tun, um die Interessen der Kinder und Jugendlichen nicht nur zu hören, sondern zu unterstützen?

Andresen: Kinder und Jugendliche müssen sich darauf verlassen können, dass sie gehört, gesehen, ihre Interessen berücksichtigt und sie beteiligt werden. Das geht im Prinzip überall – in der Familie, der Kita, der Schule, dem Sportverein oder im Jugendclub. Ja, das kann anstrengend sein, aber es lohnt sich. Ein wenig optimistisch stimmt unsere kürzlich vorgestellte Studie JuCo III. Sie macht deutlich, dass sich einige Jugendliche inzwischen politisch stärker gehört fühlen; allerdings hat die Mehrheit nach wie vor den Eindruck, dass sie politische Entscheidungen nicht beeinflussen kann. 

JuCo I, II, III und KiCo 2020: Der Forschungsverbund „Kindheit – Jugend – Familie in der Corona-Zeit“ der Universitäten Frankfurt am Main und Hildesheim führte seit April 2020 vier Online-Befragungen (JuCo I, II, III und KiCo) durch. 13.000 Jugendliche ab 15 Jahren und 25.000 Mütter und Väter mit Kindern, die jünger als 15 Jahre waren, nahmen daran teil.

 

„Gerade die Covid-19-Pandemie beweist, in welch hohem Maß Kinder und Jugendliche in der Lage sind, ihr Verhalten eigenverantwortlich zu regulieren.“ (Prof. Sabine Andresen, Kindheits- und Jugendforscherin / Foto: Klaus Ditté)