fair childhood - Bildung statt Kinderarbeit
„Wir warten nicht auf Anweisungen von oben“
In Albanien ist Kinderarbeit trotz Verbots weit verbreitet. Doch etliche Kinderarbeiter schaffen es zurück auf die Schulbank – dank freiwilliger Teams aus Lehrkräften, Eltern und Schülern.
Ein Gespräch mit Stavri Liko, der die Projekte gegen Kinderarbeit der beiden albanischen Bildungsgewerkschaften FSASH und SPASH koordiniert. Die Projekte werden von der GEW-Stiftung „fair childhood“ unterstützt.
- E&W: Herr Liko, das Problem Kinderarbeit ist vielen Menschen in Albanien noch nicht allzu lange bewusst. Warum?
Stavri Liko: Weil es Kinderarbeit früher in der Sozialistischen Volksrepublik Albanien zumindest offiziell nicht gab. Die Menschen waren auch unter dem kommunistischen Regime arm, aber diese Armut fand andere Ausprägungen. Danach, also in den Jahren der Transformation nach 1990, waren die Leute mit anderen Problemen beschäftigt, die politischen Lager bekämpften sich, und die Wirtschaft brach ein. Erst mit dem wirtschaftlichen Aufschwung trat Kinderarbeit im wahrsten Sinne des Worts wieder in den Blick der Menschen: Heute sieht man überall arbeitende Mädchen und Jungen, nicht nur in Großstädten wie Tirana.
- E&W: Waren die Bildungsgewerkschaften da schneller und sensibler?
Liko: Ja und nein. Auch wir mussten in den 1990er-Jahren erst unseren Platz im neuen System finden und Strukturen konsolidieren. Zunächst kämpften wir für die sozial-ökonomischen Interessen unserer Mitglieder. Aber seit 1998, auch unterstützt von Education International (Bildungsinternationale, BI), der Dutch Education Trade Union oder der GEW, befassen wir uns intensiv mit dem Thema Kinderarbeit und Entwicklung des Bildungssystems – und mit der Frage, wie wir die Mädchen und Jungen zurück in die Schulen bekommen und weitere Kinderarbeit in Albanien verhindern.
- E&W: Was ist der Ansatz der beiden Gewerkschaften?
Liko: Wir bleiben an den Kindern dran – und zwar an denen, die die Schule schon abgebrochen haben, ebenso wie an den Kindern, die gefährdet sind, die Schule abzubrechen! Wir arbeiten mitunter monatelang mit ihnen. Und wir ziehen alle an einem Strang, also die Eltern, Lehrkräfte, Mitschülerinnen und -schüler sowie die Gemeinden, in denen sie leben. Wir warten nicht auf Anweisungen von oben – etwa dem Ministerium –, sondern holen gemeinsam und auf Schulebene die Kinder zurück in den Unterricht.
- E&W: Wie sieht das konkret aus?
Liko: In jeder Schule, die am Projekt teilnimmt, bilden wir vier Überwachungsteams, die aus jeweils drei Lehrkräften, einem Elternteil und einem Schüler oder einer Schülerin bestehen. Diese Teams identifizieren die Schulabbrecherinnen und -abbrecher – im Dorf oder Stadtteil kennen sich die Menschen ja. Danach kontaktieren sie deren Eltern, Großeltern, Onkel oder Tanten. Letztere, weil bei uns viele Eltern wegen der Not ins Ausland migriert sind. Viele Kinder wachsen bei Verwandten auf. Die Teams sprechen also mit den Erziehenden und versuchen, sie zu überzeugen, ihre Kinder beim Schulbesuch zu unterstützen. Sie machen ihnen klar, dass das nicht nur für die Entwicklung des Kindes wichtig ist, sondern auch für deren Familien. Und die Teams sprechen mit den betroffenen Kindern. Sie fragen: Wie geht es deiner Familie wirtschaftlich? Hast du Kontakt zu Schulkindern? Was ist dein Lieblingsfach? Kurz: Warum kommst du nicht zur Schule?
- E&W: Was ist Ihre persönliche Antwort darauf?
Liko: Albanien ist ein armes Land, besonders die Minderheit der Roma ist extrem verletzlich. Kinder müssen arbeiten, damit die Familie über die Runden kommt – in Albanien sind das rund 45.000 Mädchen und Jungen. Sie arbeiten auf der Straße, versteckt in Heimarbeit, schuften in der Leichtindustrie, vor allem in Textil- und Schuhfabriken oder in gefährlicheren Jobs auf dem Bau sowie in der Landwirtschaft. 70 Prozent dieser Kinder haben die Schule ganz abgebrochen, 30 Prozent gehen nur ab und zu hin – sie kommen im Unterricht nicht mehr mit. Kinderarbeit ist in Albanien zwar per Gesetz verboten. Doch sowohl der Staat als auch soziale Akteure, einschließlich vieler Gewerkschaften, tun zu wenig, das Verbot umzusetzen.
- E&W: Was passiert, nachdem die Überwachungsteams die Familien besucht haben?
Liko: Sie erstellen einen individuellen Bildungsplan für das arbeitende Kind. Sie lernen mit ihm, begleiten es – gerade Mädchen – auch zur Schule, verfolgen die Fortschritte. Und die gibt es: Seit dem Jahr 2000 haben im Programm mehr als 6.000 Lehrkräfte mit fast 10.000 Kindern gearbeitet. Mehr als 2.800 von ihnen brachten sie in die Schule zurück, mehr als 6.500 fast für die Schule verlorene Kinder konnten sie doch noch halten.
- E&W: Stößt das Hilfsangebot der Teams auch auf Widerstand?
Liko: Ja, natürlich. Für manche Eltern hat Bildung keine Priorität, gerade für Mädchen. Manche Eltern haben, weil sie so arm oder auch weil sie Roma sind, Sorge, dass ihr Kind an der Schule gemobbt und diskriminiert wird. Aber wir geben nicht auf und klopfen immer wieder an die Tür. Wenn die Eltern dann noch immer blocken und erwidern, dass sie das Einkommen der Kinder brauchen, weil sie sonst nichts zu essen oder schlichtweg kein Geld für Schulbücher haben, organisieren die Teams Mittel aus dem Projekt und Spenden. Selbst Lehrkräfte haben schon für die betroffenen Kinder gekocht.
- E&W: Auch das kostet Zeit und Geld. Umgerechnet 500 bis 520 Euro verdient eine Lehrkraft in Albanien für 20 Stunden Unterricht pro Woche. Bekommt, wer sich in den Überwachungsteams engagiert, für die vielen Extra-Stunden auch einen Extra-Lohn?
Liko: Nein. Diese Lehrkräfte – in Albanien überwiegend Frauen – machen das ehrenamtlich, ihr Engagement ist wirklich inspirierend. Allerdings profitieren auch sie von unserem Projekt gegen Kinderarbeit: Einmal über die Seminare und Workshops, die wir für die Teams organisieren – sie motivieren enorm, denn sie bieten ihnen Professionalisierung, Gespräche auch über andere Themen und einen Blick über den Tellerrand. Zum anderen haben Lehrerinnen und Lehrer in Albanien selbst ein großes Interesse daran, dass alle Kinder in die Schulen kommen: Bei uns geht die Zahl der Kinder zurück, weil weniger geboren werden und viele Familien ins Ausland migrieren.