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Transformation der Sozialen Arbeit

„Wir waren Macherinnen“

Aufbau Ost in der Sozialen Arbeit: Nach dem Mauerfall entstand ein Berufsfeld, das es in der DDR so nicht gegeben hatte. Zwei GEW-Kolleginnen berichten.

Über 30 Jahre nach der politischen Wende ist der Generationenwechsel in der Sozialen Arbeit in Ostdeutschland in vollem Gange. Mitarbeitende, die Strukturen mit aufgebaut haben und jetzt in Rente gehen, blicken mit gemischten Gefühlen zurück. (Foto: IMAGO/Westend61)

Wenn Silke Gajek von den Entwicklungen der Sozialen Arbeit in Ostdeutschland nach der Wende spricht, klingt das zunächst sehr begeistert. Anfang der 1990er-Jahre seien sehr viele sogenannte Bottom-up-Projekte entstanden, erzählt die Referentin für Jugendhilfe, Sozialarbeit und Organisationspolitik bei der GEW Mecklenburg-Vorpommern. Sie selbst wirkte am Aufbau des Autonomen Frauenhauses Schwerin und an der Gründung des Vereins Alternative Fraueninitiative mit. Die damalige Zeit sei davon geprägt gewesen, Soziale Arbeit selbst mitzubestimmen und aufzubauen. „Das waren Aufbruchsjahre, und wir waren Macherinnen.“

Relativ schnell folgte indes die Ernüchterung, und die hat für die heute 62-Jährige viel mit den Begriffen Haushaltskonsolidierung und Ökonomisierung zu tun. Unter anderem die meist projektbezogene Finanzierung durch die Landesregierung und demzufolge auch bei den Kommunen machte es kleinen Vereinen und Initiativen schwer, zu überleben. Auch das Autonome Frauenhaus Schwerin schaffte es nicht.

Gajeks persönliche Erfahrungen sind ein Puzzleteil in einem kaum zusammenfassbaren Kontext. Was sich seit der Wende unter dem Stichwort Soziale Arbeit abspielte, ist komplex. Bei einer Tagung des TRAWOS Instituts der Hochschule Zittau/Görlitz im November 2023 diskutierten Fachleute zwei Tage lang über die „Genese Ost: Transformationen der Sozialen Arbeit in Ostdeutschland“. Es folgte eine gleichnamige Publikation, die sich auf rund 350 Seiten in 20 Beiträgen etwa mit der Entwicklung des Studiums der Sozialen Arbeit, den Veränderungen bei der Volkssolidarität* und dem Aspekt Rechtsextremismus befasst. Auch Gajek sowie die Leiterin der Fachgruppe Sozialpädagogische Berufe der GEW Brandenburg, Maria Schäfer, schrieben an dem Sammelband mit.

„Soziale Arbeit, wie wir sie heute definieren, gab es in einem paternalistischen Staat wie der DDR nicht.“ (Silke Gajek)

Der Titel „Genese Ost“ fasst quasi die Ausgangslage zusammen. „Soziale Arbeit, wie wir sie heute definieren, gab es in einem paternalistischen Staat wie der DDR nicht“, betont Gajek. Als Fachkräfte galten etwa Erzieherinnen und Erzieher, Hortnerinnen und Hortner, Fürsorgerinnen und Fürsorger oder auch Pionier- und Klubleitungen; ein Studium der Sozialen Arbeit hatte es in der DDR nicht gegeben.

Für die Beschäftigten bedeutete das oft: zurück auf Los. „Sie mussten sich komplett neu orientieren: Was ist mein Berufsabschluss jetzt wert, wo kann ich eingesetzt werden?“, sagt Schäfer. Sie selbst wurde erst 1985 geboren, kennt jedoch die Berichte der Kolleginnen. Und weiß auch: „Vertreterinnen und Vertreter der großen Wohlfahrtsverbände aus dem Westen kamen in den Osten und bauten Strukturen, Einrichtungen und Angebote auf.“

Noch bis heute seien viele Führungspositionen mit Fachkräften aus Westdeutschland besetzt. Die Karrieren der ostdeutschen Beschäftigten verliefen Schäfers Wissen nach derweil sehr unterschiedlich – von der Weiterqualifizierung durch ein Studium an den neu gegründeten Fachhochschulen bis zum Ausstieg aus dem Berufsfeld.

Erst Motivation, dann Enttäuschung

In „Genese Ost“ reflektiert die Brandenburger Gewerkschafterin mit drei weiteren Autorinnen die Bildungs- und Berufsbiografien heutiger Sozialarbeiterinnen. Die Erfahrungen ähneln denen Gajeks: Erst gab es die große Motivation, innerhalb der neuen Strukturen etwas Neues aufzubauen, dann die Enttäuschung ob der mangelnden Partizipation.

Viel lief damals über Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM) und erinnert an das, was heute Quereinstieg heißt. Auch Gajek und ihre Kolleginnen arbeiteten im Autonomen Frauenhaus als ABM-Kräfte, „wir hatten die erforderlichen Abschlüsse ja nicht“. Und wo keine Profession, da auch kein Professionsverständnis: Zu den vielen Herausforderungen habe es gehört, eine Haltung zu entwickeln und seine Rolle zu definieren, sagt Gajek, die in der DDR eine Ausbildung zur Sekretärin absolvierte, später Sozialökonomie mit Schwerpunkt feministische Soziologie in Hamburg studierte und unter anderem Landesvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen in Mecklenburg-Vorpommern war.

Professionalisierung versus Deprofessionalisierung

Professionalisierung, etwa durch die Akademisierung der Ausbildung, und eine Form der Deprofessionalisierung, etwa durch den Einsatz von ABM- statt Fachkräften, fanden damals parallel statt. Gajek erinnert sich, dass in den Jugendclubs statt akademisch ausgebildeter Sozialpädagoginnen und -pädagogen viele Erzieherinnen arbeiteten, von denen die meisten unter anderem durch den Geburtenknick der 1990er-Jahre und Kita-Schließungen den Job verloren hatten. Folgen hatte auch die plötzliche große Trägervielfalt nach der Wende. „Es gab keine einheitlichen Standards mehr, dafür aber einen ökonomischen Wettbewerb, der zulasten der Arbeitsbedingungen, Gehälter und Qualifikation ging“, sagt Schäfer, die in diesem Kontext auch von „Prekarisierung“ spricht.

„In den ersten fünf Jahren nach der Wiedervereinigung halbierte sich die Zahl der Mitglieder in Ostdeutschland nahezu von 4,2 auf 2,4 Millionen.“ (Maria Schäfer)

Zugleich verloren die Gewerkschaften an Stärke: „In den ersten fünf Jahren nach der Wiedervereinigung halbierte sich die Zahl der Mitglieder in Ostdeutschland nahezu von 4,2 auf 2,4 Millionen“, betont Schäfer. Ein Grund waren veränderte Strukturen: Es gab nicht mehr die großen Betriebsgemeinschaften wie zu DDR-Zeiten und auch immer weniger Tarifbindung. Viele Beschäftigte glaubten, ohne Tarifvertrag ohnehin nicht von der Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft profitieren zu können.

Schäfer blickt jedoch optimistisch in die Zukunft: Derzeit finde in Ostdeutschland ein Generationenwechsel statt. „Ich bin sehr gespannt, ob künftig mehr Ostdeutsche in Gestaltungs- und Führungspositionen kommen.“ Zudem wünscht sie sich, dass aus den Erfahrungen der Vergangenheit Lehren gezogen werden. „Man kann aus der Entwicklung hier gut lernen, wie wichtig es ist, die Beschäftigten in der Sozialen Arbeit umfassend zu beteiligen, auf fachpolitischer Ebene und bei den Trägern. Man muss sich selbstwirksam fühlen, um die Kraft zu haben, andere bei ihren Problemen zu unterstützen.“ 

* Die Volkssolidarität ist eine 1945 in der sowjetischen Besatzungszone gegründete Hilfsorganisation, die später in der DDR vor allem in der Betreuung älterer Menschen aktiv war. Seit 1990 ist die Volkssolidarität in allen Bereichen der Sozialen Arbeit tätig und Mitglied im Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband.