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Türkei

Wir stehen zusammen!

Erstmals seit Jahren hat die türkische Bildungsgewerkschaft EĞITIM-SEN zu einer öffentlichen Protestkundgebung nach Ankara aufgerufen. Birgit Koch und Cetin Mogultay sind für die GEW in die türkische Hauptstadt gereist, um ihre Solidarität zu zeigen.

Unter dem Slogan „Unsere Rechte, unsere Zukunft und ein Recht auf Bildung für unsere Schüler*innen“ hatte die Gewerkschaft EĞITIM-SEN für den 23. November 2019 Beschäftigte aus Grundschulen, Sekundarschulen und Hochschulen sowie Schülerinnen und Schüler, Eltern und alle Bürgerinnen und Bürger zu einer landesweiten Aktion gegen die Bildungspolitik der AKP-Regierung unter Präsident Erdogan aufgerufen. Auf Einladung der EĞITIM-SEN nahmen auch Birgit Koch, GEW-Landesvorsitzende in Hessen, und Cetin Mogultay aus NRW an der Protestkundgebung in Ankara teil.

Erste öffentliche Kundgebung seit Jahren

Mit der Kundgebung wagte die Bildungsgewerkschaft EĞITIM-SEN einen lange in der demokratischen Opposition erwarteten Schritt: Öffentlichen Protest!  „Es kamen über 5.000 Menschen. Ein großer Erfolg für EĞITIM-SEN, deren Mitglieder und Führungspersonal von Repressionen bedroht sind“, berichtet Cetin Mogultay.  „Unter den Teilnehmenden waren auch viele, die aus politischen Gründen ihre Arbeitsstellen verloren hatten und für die Wiedereinstellung kämpften.“  Vorstandsmitglieder der EĞITIM-SEN waren seit Wochen in den Gliederungen der Gewerkschaft und in den Schulen der Türkei unterwegs, um in direkten Gesprächen möglichst viele Kolleginnen und Kollegen zu ermutigen und für die erste landesweite Aktion seit vier Jahren nach Ankara zu mobilisieren. Dies haben sie trotz vieler Schwierigkeiten geschafft. Aus allen Regionen der Türkei waren EĞITIM-SEN-Mitglieder dem Aufruf ihrer Gewerkschaft in die Hauptstadt gefolgt, um sich auf dem traditionsreichen Tandogan-Platz zu versammeln. Bis zuletzt hatte die Stadtverwaltung von Ankara die Genehmigung für die Veranstaltung verzögert. Die Zusage wurde erst am 22.11. spät nachmittags unter der Auflage erteilt, dass nur eine Kundgebung und kein Demonstrationszug stattfinden darf.

Die Menschen haben Angst

Die Angst der Menschen in der Türkei, an öffentlichen Massenkundgebungen teilzunehmen, ist seit dem 10. Oktober 2015 nicht überwunden. Damals hatten 103 Menschen bei einem Terroranschlag auf eine friedliche Kundgebung in der Nähe des Hauptbahnhofs von Ankara ihr Leben verloren, darunter auch mehrere EĞITIM-SEN-Mitglieder. „Die Menschen fürchten sich, an solchen Veranstaltungen teilzunehmen“, berichtet Birgit Koch, die schon im Frühjahr 2019 für die GEW in Ankara an einem internationalen Symposium der EĞITIM-SEN zu Freiheitsrechten in der Türkei teilgenommen hatte. „Sie haben nicht nur Angst um ihr Leben. Sie müssen auch jederzeit damit rechnen, durch über Nacht geschaffene Notverordnungen ihre Stelle zu verlieren. Oder verhaftet und strafrechtlich verfolgt zu werden. Oder in eine abgelegene Region zwangsversetzt zu werden.“  Cetin Mogultay, der für die GEW in der Vergangenheit schon an internationalen Prozessbeobachtermissionen in die Türkei teilgenommen hat, ergänzt: „Die Betroffenen werden vor der Verhängung einer Sanktion nicht einmal dazu angehört.  Sie haben keine Möglichkeit, sich rechtlich gegen die Willkür der AKP-Regierung zu wehren.“

Worum ging es bei der Aktion?

  • Die Bildungsgewerkschaft EĞITIM-SEN berichtet, dass seit dem gescheiterten Putschversuch im Sommer 2016 über 100.000 Beschäftigte aus dem öffentlichen Dienst der Türkei durch Notverordnungen suspendiert oder entlassen worden seien, davon über 45.000 Lehrerinnen und Lehrer. Darunter befünden sich 4.300 Mitglieder von Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes, die bei der Dachorganisation KESK organsiert sind. 1.600 davon seien EĞITIM-SEN-Mitglieder, davon 300 Frauen. Sie alle wollten ihre Arbeitsstellen zurückbekommen und kämpften darum mit Unterstützung der Gewerkschaft. Gegen viele seien Strafverfahren mit erfundenen Anklageschriften eingeleitet worden. Sie dürften nicht mehr im öffentlichen Dienst beschäftigt werden, so die Bildungsgewerkschaft.
  • Nach Angaben des türkischen Schulministeriums fehlten in den öffentlichen Schulen 70.000 – 100.000 Lehrkräfte. Die Stellen würden nicht besetzt, weil der Etat für Bildung von Jahr zu Jahr gekürzt wird, während das Budget für Militärausgaben enorm erhöht wurde, berichtet die Gewerkschaft EĞITIM-SEN.  Demgegenüber stünden nach Gewerkschaftsangaben ca. 700.000 ausgebildete Lehrkräfte auf dem Lehrerarbeitsmarkt, die aufgrund ihrer politischen Orientierung, religiöser oder ethnischer Zugehörigkeit nicht eingestellt werden. Sie müssten ihren Lebensunterhalt in anderen Bereichen suchen.
  • Nach Auswertungen der türkischen Bildungsgewerkschaft seien die Mittel für Bildung und Erziehung in der Türkei immer weiter heruntergefahren worden. Während im Jahre 2002 noch 17 Prozent  des Gesamtetats dafür ausgegeben wurden, werde im Haushalt 2018 nur noch acht Prozent für Bildung geplant. Diese Talfahrt wird 2020 fortgesetzt, obwohl das Land mehr Lehrerinnen und Lehrer, Investitionen in Schulgebäude und höhere Etats für die Schulen benötigt. Trotz der offenen Lehrerstellen und einer hohen Anzahl an ausgebildeten Lehrkräften, die auf Einstellung warten, nehme die Zahl der befristet beschäftigten Honorarlehrkräfte, die ohne jegliche soziale Sicherung für Hungerlöhne arbeiten, rapide zu.
  • Die Hauptvorstandsmitglieder von EĞITIM-SEN trugen bei dem Gespräch der GEW-Delegation vor, dass 35 Prozent der ehemals staatlichen Schulen in der Türkei inzwischen privatisiert worden seien. Träger seien religiös orientierte Stiftungen und Sekten, die der Regierungspartei AKP nahe stehen und mit staatlichen Mitteln gefördert werden. Die Vermittlung religiöser Inhalte und der arabischen Sprache stünden im Vordergrund, viele Gymnasien und Realschulen seien in Predigerschulen (Imam-Hatip-Schulen) umgewandelt worden. Viele Eltern weigerten sich, ihre Kinder in diese religiösen Schulen zu schicken, an denen ihre Kinder mutmaßlich einer rigorosen Gehirnwäsche unterzogen würden . Schülerinnen und Schüler müssten oft weite Wege in Kauf nehmen, wenn sie auf den Besuch einer staatlichen Schule bestehen und die Predigerschulen ablehnen.
  • Bei dem im Anschluss an die Kundgebung mit dem Kolleginnen und Kollegen des Hauptvorstandes geführten Gespräch verdeutlichten Birgit Koch und Cetin Mogultay von der GEW, dass der Wertverlust der türkischen Lira und damit der Verlust der Kaufkraft auch die Lehrkräfte betreffe. Durch die andauernde Wirtschaftskrise seien die Lehrerentgelte in den vergangenen zehn Jahren um 50 Prozent gesunken.  So habe eine Lehrkraft in der Türkei vor zehn Jahren umgerechnet etwa 800 Euro verdient. Heute erhalte sie nur noch die Hälfte.

Gewerkschaftliche Solidarität gefordert

EĞITIM-SEN kämpft in der Türkei für eine wissenschaftsbasierte, demokratisch-laizistische, öffentliche, vom Staat finanzierte, kostenlose Bildung und Erziehung für alle. Die Bildungsgewerkschaft tritt dafür ein, dass alle Lehrkräfte, die seit 2016 vom Dienst suspendiert wurden, wieder eingestellt und rehabilitiert werden. Sie fordert mehr Geld für Bildung, eine gerechte Bezahlung der Lehrerinnen und Lehrer an Schulen und wissenschaftlich Beschäftigten an Universitäten und sie fordert das Recht auf Bildung in der Muttersprache. „Unser Besuch in Ankara wurde als Zeichen der Ermutigung von vielen dort begrüßt“,  erklärt die hessische GEW-Vorsitzenden Birgit Koch nach Rückkehr in Frankfurt. „Die GEW muss ihre Schwestergewerkschaft EĞITIM-SEN in diesen Zeiten der Repression weiter unterstützen. Mehr denn je ist unsere Solidarität gefordert, damit der undemokratischen Politik der türkischen Regierung endlich ein Riegel vorgeschoben wird.“