Sinti und Roma in Deutschland
„Wir sind hier!“
Hamze Bytyci ist Schauspieler, Medienpädagoge sowie Sozialarbeiter und lebt in Berlin. 2012 gründete er den Verein RomaTrial e. V., der sich gegen Antiziganismus und für mehr Sichtbarkeit von Sinti und Roma in der deutschen Öffentlichkeit einsetzt.
- E&W: Herr Bytyci, wer ist „wir“ und wo ist „hier“?
Hamze Bytyci: Diese Frage könnten wir uns als Gesellschaft grundsätzlich stellen – jeden Tag aufs Neue. Aber bezogen auf unser Projekt bedeutet es erst mal: „Wir“, das sind die Sinti und Roma, und „hier“, das ist Deutschland und seine Bildungsinstitutionen. Eine Studie des Georg-Eckert-Instituts hat gezeigt, dass das Thema Antiziganismus in keinem Lehrplan der 16 Bundesländer explizit genannt wird. Und auch die Geschichte und Gegenwart der Sinti und Roma sind in der Schule kaum sichtbar. Der Ausspruch „Wir sind hier!“ richtet sich daher auch an Lehrkräfte, Pädagoginnen und Pädagogen. Daran könnte sich noch die Frage anschließen: Was ist los, Deutschland?
- E&W: Aus welchen Elementen besteht das Bildungsprogramm? Was sind die Ziele?
Bytyci: Grundpfeiler des Programms sind die Peer-Trainerinnen und -Trainer. Das sind junge, von Antiziganismus betroffene Menschen, die bei uns eine Ausbildung durchlaufen, die sie befähigt, die Themen Rassismus und Diskriminierung von Sinti und Roma in Workshops zu behandeln. Diese Ausbildung beinhaltet auch einen Selbstfindungsprozess für die Jugendlichen, die ihre Identität oft lange verheimlicht haben. Das Programm richtet sich also sowohl nach innen als auch nach außen.
Die Workshops sind für andere Jugendliche, aber auch für Pädagoginnen und Pädagogen gedacht. Das Ziel ist es, einen Selbstreflexionsprozess im Bildungssystem über den eigenen institutionellen Rassismus gegenüber Sinti und Roma anzuregen. Dieser hat bisher leider nicht stattgefunden. Umfragen zeigen, dass eine Mehrheit der Sinti und Roma in deutschen Schulen Diskriminierung erfährt und nur ein Bruchteil von ihnen Lehrkräfte dabei als eine Unterstützung gegen diese Benachteiligung erlebt. Im Vergleich zur Gesamtbevölkerung erreichen Sinti und Roma seltener das Abitur und bleiben öfter ohne Berufsausbildung. Dieses Problem muss endlich angegangen werden.
- E&W: Bei dem Programm spielt auch Theater eine wichtige Rolle. Wie wird dieses Medium eingesetzt?
Bytyci: In den Workshops nutzen unsere Trainerinnen und Trainer die Methode des „Forumtheaters“, das auf dem „Theater der Unterdrückten“ nach Augusto Boal und Bárbara Santos* basiert. Im Zentrum jedes Stücks steht ein Konflikt, in dem auf der einen Seite die Unterdrücker stehen und auf der anderen die Unterdrückten. Das Publikum wird von Anfang an mit einbezogen mit dem Ziel, gemeinsam eine Lösung für das dargestellte Problem zu finden. Was kann man tun, wenn ein anderer Mensch gemobbt wird? Wie reagiert man, wenn sich eine Lehrkraft rassistisch äußert? Im Laufe des Stücks werden die verschiedenen Rollen auch mit Leuten aus dem Publikum besetzt, die sich dann in die Lage ihres Charakters hineindenken müssen. Dieser Perspektivwechsel ist ein Schlüsselelement des Forumtheaters.
- E&W: Was sind die Vorteile dieser Form der Reflexion?
Bytyci: Theater ist eine gute Möglichkeit, mit Jugendlichen in Kontakt zu treten. Damit kann man die trockene Meta-Ebene umgehen und direkt zum Problem und auch zu möglichen Lösungsansätzen kommen. Anstatt einfach nur zu reden, fordert diese Art des Theaters einen dazu auf, zu handeln und zu intervenieren. Erst durch die Übernahme der Rolle eines Unterdrückten realisieren viele Menschen, wie es ist, diskriminiert zu werden, aber auch, was es heißt, Privilegien zu haben. Das könnte ein theoretischer Vortrag zu dem Thema nicht bewirken.
- E&W: Der Start von „Wir sind hier!“ fiel direkt in den Beginn der Corona-Pandemie. Wie gut konnten Sie unter solchen Bedingungen arbeiten?
Bytyci: Für uns war das grundsätzlich wie für die meisten anderen auch: Homeoffice war angesagt, Besprechungen mussten erst mal digital stattfinden. Erschwerend kam aber hinzu, dass viele der jugendlichen Peer-Trainerinnen und -Trainer gar keinen Laptop oder ein Tablet besaßen und oft nicht einmal Internet hatten. Corona war also eine echte Herausforderung für uns, vor allem während der Kontaktbeschränkungen, als nur wenige Menschen in Innenräumen zusammenkommen durften. Unsere Treffen haben wir dann so oft wie möglich nach draußen verlegt. Diese Zeit war sehr anstrengend, die Arbeit an dem Projekt hat aber Spaß gemacht. Vor allem wurde uns durch die Pandemie noch deutlicher bewusst, dass es in diesem reichen Land viele arme Menschen gibt, die unter solchen Ausnahmesituationen immer mehr zu leiden haben als andere.
- E&W: Welche Ziele haben Sie sich mit „Wir sind hier!“ für das nächste Jahr gesetzt?
Bytyci: Bisher liegt der Fokus unserer Arbeit in Berlin, das wollen wir aber ändern. Im nächsten Jahr möchten wir in Brandenburg und Sachsen ähnliche Gruppen aufbauen, wie wir sie in Berlin schon haben. In Brandenburg hat die AfD bei den Bundestagswahlen knapp 20, in Sachsen über 25 Prozent der Wählerstimmen erhalten – unter solchen Voraussetzungen ist es nicht einfach, sich offen als Sinto oder Sintiza bzw. Rom oder Romni zu erkennen zu geben. Die größte Herausforderung wird daher sein, vor Ort Leute zu finden, die bereit sind, sich zu exponieren und sich aktiv gegen Antiziganismus zu engagieren. Das macht es aber umso wichtiger, auch dort zu sagen: „Wir sind hier!“
*Augusto Boal (1931–2006) war ein brasilianischer Theaterregisseur, Bárbara Santos ist Theaterregisseurin, Schauspielerin und künstlerische Leiterin des „Theater der Unterdrückten“ in Berlin.