Wenn Grundschullehrerin Ursula Köthen (Name geändert) aus dem Hunsrück ihrer 1. Klasse eine Aufgabe erklärt, blicken sie zwei Kinder stets ratlos an. Die 56-Jährige geht an deren Tisch, zeigt auf die Zahlen im Heft – und wiederholt noch einmal ganz langsam und deutlich, was zu tun ist. „Sie brauchen eigentlich eine Eins-zu-eins-Betreuung“, sagt Köthen. „Sonst verstehen sie überhaupt nicht, was sie machen sollen.“ Klar ist: Die beiden Sechsjährigen benötigen sonderpädagogische Förderung. Deshalb gehen sie auf eine Schwerpunktschule. So werden in Rheinland-Pfalz allgemeine Schulen bezeichnet, die inklusiven Unterricht anbieten. Das Problem: Es mangelt an Förderschullehrkräften.
„Und zwar ganz dramatisch“, sagt Bezirkspersonalrätin Elisabeth Ellenberger, Mitglied der GEW-Fachgruppe Grundschulen. Je weiter im Norden die Schule liegt, desto schwerer fänden sich Bewerberinnen und Bewerber, berichtet ihr Kollege Andreas Mertens, zuständig für Gesamtschulen. „Oft gibt es überhaupt niemanden.“ In diesen Regionen zeichnet sich auch ein Mangel an Grund- und Berufsschullehrkräften ab. Zwar konnten zum Schuljahresbeginn noch alle Planstellen besetzt werden, doch immer häufiger springen Vertretungskräfte ohne entsprechende Ausbildung ein. „Für den Rest des Kollegiums bedeutet das eine zusätzliche Belastung“, sagt Ellenberger.
Köthens Grundschule sucht händeringend Förderschullehrkräfte. Ohne Erfolg. Nachdem eine Kollegin weggegangen war, fand sich kein Ersatz. Deshalb hat eine Nachwuchskraft den Job übernommen – frisch von der Uni und eigentlich Realschullehrerin, eine sogenannte Andersqualifizierte, kurz AQ genannt. Damit sei die Stelle offiziell besetzt, sagt Köthen. „Die junge Frau tut wirklich ihr Bestes.“ Aber sie brauche selbst noch Unterstützung – und niemand habe Zeit, sie richtig anzulernen. Ohnehin reichten ihre Kapazitäten hinten und vorne nicht für alle Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf.
„Wir hetzen von einer Klasse zur nächsten und sind gar nicht mehr so nah an den Kindern dran.“ (Werner Möller)
Köthen muss die Förderpläne alleine schreiben – und dafür Sorge tragen, dass die Kinder nicht abgehängt werden. Ständig mit dem Gefühl, ihren Schülerinnen und Schülern nicht gerecht zu werden. Zum einen fehlt die Zeit. In ihrer Klasse sind noch viele andere Kinder, die Schwierigkeiten mit dem Lernstoff haben, den Unterricht stören oder einfach aus dem Klassenzimmer rennen. Zum anderen ist die Klassenlehrerin dafür auch gar nicht ausgebildet. „Ich stoße an meine Grenzen. Ich habe immer das Gefühl, meine Arbeit nicht richtig gut zu machen.“
Dieses Gefühl kennt Förderschullehrer Werner Möller (Name geändert) nur zu gut. Mit einer halben Stelle ist er an einer Gesamtschule in Kaiserslautern für zehn Kinder zuständig. „Wir bekommen ständig zu hören, dass wir gut besetzt und viele Schulen deutlich schlechter dran sind“, berichtet der 61-Jährige. „Aber das kann ich nicht nachprüfen. Niemand blickt so richtig durch, nach welcher Berechnung die Stellen verteilt werden.“ Fakt sei: Die Bedingungen würden von Jahr zu Jahr schlechter. „Wir hetzen von einer Klasse zur nächsten und sind gar nicht mehr so nah an den Kindern dran.“ In der 8a unterstützt der Lehrer zum Beispiel drei Kinder mit geistiger Behinderung. Während in Mathe Bruchrechnen auf dem Stundenplan steht, übt Möller mit ihnen die Zahlen bis 20. „Die Regellehrkräfte können das nicht leisten.“ Der Förderlehrer ist dienstags drei Stunden in der Klasse eingesetzt, freitags eine Stunde. Und für ein paar weitere Stunden kommt eine pädagogische Fachkraft. Das war’s.
Die Kolleginnen und Kollegen seien für immer mehr Kinder zuständig, berichtet GEW-Mitglied Birgit Wolsdorfer vom Bezirkspersonalrat für Förderschullehrkräfte. Das bedeute mehr Vorbereitung, mehr Gutachten, mehr Förderpläne, mehr Konferenzen. Kurzum: mehr Arbeit bei weniger Zeit. Fakt sei, sagt Möller, „wir sind am Limit“. Viele Kolleginnen und Kollegen verausgabten sich total.
Besonders prekär ist die Situation laut Ellenberger im Bezirk Koblenz. Grund sei, dass ein Studium für Lehramt auf Sonderpädagogik nur in Landau in der Pfalz möglich sei, also ganz im Süden. Die ländlichen Regionen im Norden stünden selten auf der Wunschliste junger Lehrkräfte. Zudem wechselten viele Absolventinnen und Absolventen in die benachbarten Bundesländer, so die Personalrätin. Ob Hessen, Nordrhein-Westfalen oder Saarland – „über all verdienen verbeamtete Lehrkräfte mehr“. Rheinland-Pfalz gehöre in der Besoldungstabelle zu den Schlusslichtern. Die Landesregierung hat deshalb beschlossen, ihren Beamtinnen und Beamten ab dem nächsten Jahr etwas mehr Geld zu zahlen. Damit will sie zumindest ins Mittelfeld aufrücken.
„Augenwischerei“
Insgesamt, sagt Henning Henn, Sprecher des Bildungsministeriums, sei Rheinland-Pfalz nicht so stark vom Lehrkräftemangel betroffen wie andere Bundesländer. „Nur bei den Förderschullehrkräften merken wir, dass der bundesweite Trend auch vor uns nicht Halt macht.“ Zum Schuljahresbeginn seien 20 Stellen nicht besetzt worden. Für den zuständigen Bezirkspersonalrat ist diese Aussage nicht nachvollziehbar. Nach Auswertung aller Einstellungen von Förderschullehrkräften seien die Zahlen deutlich höher, sagt Wolsdorfer. Zudem gingen in den nächsten Jahren mehr Kolleginnen und Kollegen in Ruhestand als ausgebildet würden. Die Zahlen sagten auch nichts über die Qualifikation aus, fügt Ellenberger hinzu. Zwar seien die Stellen in der „Funktion von Förderschullehrkräften“ besetzt, häufig jedoch mit pädagogischen Fachkräften oder AQs. „Das ist Augenwischerei.“ Fest stehe: Die Zahl der Förderschullehrkräfte reiche jetzt schon nicht aus. Und jedes Jahr kämen neue Schwerpunktschulen dazu. Den Mangel einigermaßen gleichmäßig zu verteilen, so Wolsdorfer, „das funktioniert nicht mehr“!
Markt leergefegt
Auch an berufsbildenden Schulen seien immer mehr Aushilfskräfte im Einsatz, berichtet Wolfgang Butterbach, Mitglied der GEW-Fachgruppe berufsbildende Schulen (BBS), „im ungünstigsten Fall ohne jegliche pädagogische Ausbildung“. Doch der Markt sei leergefegt. Vor allem in Bedarfsfächern wie Wirtschaft, Informatik, Elektrotechnik und Pflegewissenschaften gingen viele Nachwuchskräfte lieber in die freie Wirtschaft: „Da haben sie bessere Karrierechancen und verdienen mehr.“ Butterbachs Angaben zufolge bräuchte es landesweit etwa 200 bis 300 Stellen zusätzlich. Schon allein, um den Unterrichtsausfall zu reduzieren. Die Landesregierung habe sich zum Ziel gesetzt, dass der strukturelle Ausfall an den berufsbildenden Schulen unter 3 Prozent bleiben soll.
„Doch das ist noch viel zu hoch“, betont Butterbach. Zumal es sich hier nur um einen Durchschnittswert handele und einige Schulen sehr viel stärker betroffen seien. Hinzu kämen kurzfristige Ausfälle, etwa durch Krankheit. Wenn bereits mit weniger Stellen geplant werde als benötigt würden, laufe etwas grundsätzlich schief, sagt der Personalrat. Die Lehrkräfte an berufsbildenden Schulen schöben einen riesigen Berg Überstunden vor sich her. Zudem gingen in den nächsten fünf Jahren weit mehr als 1.000 Kolleginnen und Kollegen in Ruhestand. Deshalb stehe fest: „Der Bedarf wird noch stark steigen.“
Rheinland-Pfalz in Zahlen
(Quelle: Bildungsministerium Rheinland-Pfalz) |