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Antirassistische Bildungsinitiative

„Wir müssen etwas verändern“

Neun Menschen wurden am 19. Februar 2020 in Hanau ermordet, der Täter, der später auch seine Mutter und dann sich tötete, war von Rassismus und Hass getrieben. Jetzt hat die Mutter eines der Opfer eine antirassistische Bildungsinitiative gegründet.

Serpil Termiz Unvar will mit ihrer Bildungsinitiative Rassismus in Schule und Gesellschaft bekämpfen. (Foto: Bildungsinitiative Ferhat Unvar)

Bereits wenige Tage nach dem Terroranschlag stand für Serpil Temiz Unvar fest, eine antirassistische Bildungsinitiative zu gründen. Im Namen ihres Sohnes: Ferhat Unvar, 23. „Der Anschlag hat mir mein Kind entrissen“, sagt die Mutter. Und er habe ihr vor Augen geführt, wo die Familie bereits vorher Rassismus erlebt habe. Am meisten macht ihr die Situation in den Schulen zu schaffen. Immer wieder habe sie deswegen mit ihrem Sohn gestritten. Ferhat sei sehr intelligent gewesen, so Unvar, habe sich als „Ausländerkind“ aber oft nicht akzeptiert gefühlt. Das habe ihr Verhältnis sehr belastet. Für die Mutter steht fest: „Wir müssen etwas verändern. Für die Zukunft so vieler anderer Kinder.“ Mit der Bildungsinitiative Ferhat Unvar möchte sie dazu beitragen. Im ersten Schritt richtet das Projekt eine Anlaufstelle für Jugendliche mitten in Hanau ein. Außerdem will ein Team aus jungen Leuten ab Mai Workshops gegen Rassismus an Schulen anbieten.

„Für die Bildungsinitiative gibt es unglaublich viel Unterstützung aus ganz Deutschland“, sagt Projektkoordinatorin -Judith Lechner. Darunter Organisationen wie die Amadeu-Antonio-Stiftung und die Bildungsstätte Anne Frank. „Das zeigt, wie groß der Bedarf ist“, meint Lechner, „aber auch, dass das Engagement von Frau Unvar sehr gewürdigt wird.“ Zudem hätten sich innerhalb kurzer Zeit viele junge Menschen gemeldet, die mitmachen wollten. Dazu zählen Freundinnen und Freunde von Ferhat. „Aber auch junge Leute, die nicht aus Hanau kommen“, berichtet die Projektkoordinatorin, „die durch den Anschlag tief erschüttert wurden und sich engagieren wollen.“

Betroffenen zuhören

Ab Mai will das Team sogenannte Empowerment-Workshops an Schulen starten. Erste Anfragen gibt es bereits. „Wir sind positiv überrascht, wie groß die Offenheit ist“, sagt Lechner. Außerdem will die Bildungsinitiative künftig einmal pro Woche eine Beratung anbieten. Einen Raum dafür gibt es schon: in der Stadtbibliothek, zentral gelegen in der Hanauer Innenstadt. „Wir wollen dahin, wo die Zielgruppe unterwegs ist.“ Sprich: Jugendliche, die in der Schule Erfahrungen mit Rassismus gemacht haben. Sei es, weil sie von Lehrkräften diskriminiert oder von Mitschülerinnen und Mitschülern gehänselt wurden. Die Bildungsinitiative setzt auf das Peer-to-Peer-Modell, mit anderen Worten: Junge Menschen sprechen mit Jugendlichen auf Augenhöhe über ihre Erfahrungen. „Die Schülerinnen und Schüler sollen jemand haben, der ihnen zuhört – und sie ernst nimmt.“ Das fehle oft.

Die Engagierten wissen, wovon sie sprechen. Viele von ihnen hätten in ihrer Schulzeit selbst Rassismus erfahren, berichtet Lechner. Das gelte für alle jungen Leute aus dem Team mit „sichtbarer“ Migrationsgeschichte. Die Bildungsinitiative erhält Fördergelder, auch die Stadt Hanau unterstützt die Initiative. Das Team ist aber auf Spenden angewiesen. „Wir befinden uns noch in der Aufbauphase“, sagt Lechner.

„Ihr Tod soll ein Anfang sein von etwas Neuem. Von Schulen ohne Rassismus und einem Zusammenleben, in dem wir alle gleiche Rechte haben.“ (Serpil Temiz Unvar)

Der Herzenswunsch von Unvar ist, im nächsten Schritt auch ein Angebot für Mütter aufzubauen. Sie sollen sich über ihre Erfahrungen austauschen können – und Unterstützung erhalten. Als es damals mit ihrem Sohn oft Ärger wegen der Schule gab, hat Unvar so etwas gefehlt. „Ich hätte mir gewünscht, mit anderen Müttern darüber sprechen zu können.“ Sie will einen Raum öffnen für antirassistische Bildung und Empowerment. „Unsere Kinder dürfen nicht umsonst gestorben sein“, so Unvar. „Ihr Tod soll ein Anfang sein von etwas Neuem. Von Schulen ohne Rassismus und einem Zusammenleben, in dem wir alle gleiche Rechte haben.“ Wenn sie das erreicht hätten, werde sie am Grab ihres Sohnes stehen und sagen: „Das war dein Kampf und du hast es geschafft.“