Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB)
„Wir können uns keinen Pessimismus leisten“
Aladin El-Mafaalani ist Professor für Bildung und Erziehung in der Migrationsgesellschaft an der Universität Osnabrück. Im E&W-Interview erklärt er, welche Lehren aus dem jüngsten IQB-„Bildungstrends“ für die Grundschulen gezogen werden müssen.
- E&W: Nach den fatalen Resultaten des IQB-Bildungstrends 2021: Lassen die Bildungspolitiker die Grundschulen im Stich?
Prof. Aladin El-Mafaalani: Sie haben den Grundschulen über Jahrzehnte viel zu wenig Beachtung geschenkt. Die Schulen, aber auch die Kitas, sind strukturell unversorgt – und zwar sowohl personell als auch finanziell. Dabei sind das die entscheidenden Institutionen. Die IQB-Studie zeigt, dass die Förderung bis zum zehnten Lebensjahr wichtiger ist als die in den weiterführenden Schulen. Dies gilt im Hinblick auf die Kompetenzentwicklung in den grundlegenden Fähigkeiten genauso wie für den Ausgleich ungleicher Startchancen. Dass die Lage in Kitas und Grundschulen so desolat ist, kann man als Hinweis für eine sträfliche Vernachlässigung deuten. „Im Stich gelassen“ trifft es vielleicht gut.
- E&W: Die Grundschulen waren viele Jahre das Beste, was das Bildungssystem in Deutschland zu bieten hatte: Wie erklären Sie sich den dramatischen Absturz?
El-Mafaalani: Ich würde zwei Entwicklungen besonders hervorheben: Zum einen den Fachkräftemangel, der in Kitas und Grundschulen besonders stark ist. Zum anderen den enormen sozialen Wandel, der eine Reihe Herausforderungen mit sich bringt: Wir haben grundlegende Änderungen der Familienstrukturen im Allgemeinen sowie Veränderungen der Klassengesellschaft, die eine Zunahme resignativer Milieus hervorgebracht haben. Außerdem können wir heute von superdiversen Kindheiten sprechen, das heißt, dass Kinder mit Blick auf Lebenswelt und Herkunft so unterschiedlich sind wie nie zuvor in der Geschichte. Unterversorgung und sozialer Wandel zusammengenommen führen zu diesem Absturz.
- E&W: Welche konkreten Auswirkungen hat die -soziale Ungleichheit unter den Schülern?
El-Mafaalani: Ungleiche Bildungschancen führen zu ungleichen Lebenschancen. Für die Gesellschaft führt das dazu, dass wir vielleicht für Jahrzehnte den Fachkräftemangel in allen Berufen und Branchen einplanen können.
- E&W: Die soziale Spaltung unter den Grundschülern, hat sich kontinuierlich vergrößert. Wieso hat die Politik dieser Entwicklung tatenlos zugesehen?
El-Mafaalani: Der sogenannte Schulfrieden, ich sage eher: Waffenstillstand, im Hinblick auf das Sekundarstufensystem, zeigt schon die Schwerpunktsetzung. Da hat man sich „verkämpft“. Außerdem hat man gesamtgesellschaftlich den enormen Wandel kaum gesehen und systematisch berücksichtigt: Arbeitsmarkt, Gleichstellung der Frauen, Migration, prekarisierte Milieus, Segregation in Städten, Veränderungen zwischen Stadt und Land.
- E&W: Das ifo-Institut für Wirtschaftsforschung befürchtet, dass die Lernrückstände langfristig den Wohlstand in Deutschland gefährden. Durchschnittlich 1,5 Prozent minus beim Bruttoinlandsprodukt über den Rest des Jahrhunderts. Teilen Sie diese Einschätzung?
El-Mafaalani: Ich würde es nicht in Ziffern ausdrücken wollen, da es auch in diesem Kontext zu sogenannten Kipppunkten kommen kann: Wenn zu dem ohnehin bestehenden Fachkräftemangel, dem Altern der Bevölkerung und den globalen Krisen auch noch zutiefst hausgemachte Probleme hinzukommen, kann das zu Verstärkungseffekten führen, die nicht linear sind. Aber dass aus diesen Befunden im Bildungsbereich für den Wohlstand in Deutschland negative Effekte ablesbar sind, kann kaum bezweifelt werden. Um nur einen Aspekt zu nennen: Wir müssen in den nächsten 20 bis 30 Jahren unsere gesamte Infrastruktur ändern, um klimakompatibel weiterhin in Wohlstand leben zu können. Wer soll das machen? Es fehlen Menschen und Qualifizierungen, aber es mangelt nicht an Geld.
- E&W: Was schlagen Sie vor, um die skandalöse Lage in den Grundschulen zu verbessern?
El-Mafaalani: Finanziell eine sukzessive Steigerung, mit der wir bis Anfang der 2030er-Jahre eine Verdopplung der Bildungsausgaben erreichen. Gleichzeitig eine Schwerpunktsetzung im Bereich Kita und Grundschulen – und hier besonders in segregierten Gebieten. Der jetzt beginnende Ausbau des Ganztags ist von allen Seiten zu unterstützen: multiprofessionelle Teams, außerschulische Akteure stärker in die Schulen holen, ehrenamtliches Engagement in Kooperation mit professionellen Fachkräften als wichtigen Teil der Schule sehen, eine durchgehende Basiskompetenzförderung, um Rückstände gar nicht erst entstehen zu lassen.
Und: Das Fortbildungssystem für Lehrkräfte verdient den Namen „System“ gar nicht. Das ist problematischer als das Ausbildungssystem. Mit Hochschulen zusammen Fortbildungsinstitute für alle pädagogischen und sozialen Berufe schaffen, das könnte ein Weg sein, dem entgegenzuwirken. Jetzt fragen Sie bestimmt, ob ich genug Ansätze in all diese Richtungen sehe: Ja, die sehe ich. Aber sie sind langsamer als die Entwicklung voranschreitet. Es gibt keinen Grund für Optimismus. Aber Pessimismus können wir uns nicht leisten.