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Kinderrechte und Kinderarmut

„Wir haben in Deutschland sehr dicke Bretter zu bohren“

Wie könnten Kinder und Jugendliche von einer Verankerung der Kinderrechte im Grundgesetz profitieren? E&W hat bei Claudia Kittel vom Deutschen Institut für Menschenrechte (DIMR) nachgefragt.

Claudia Kittel leitet die Monitoring-Stelle zur UN-Kinderrechtskonvention im Deutschen Institut für Menschenrechte (DIMR) mit Sitz in Berlin. (Foto: DIMR/B. Dietl)
  • E&W: Das Deutsche Institut für Menschenrechte setzt sich seit Jahren dafür ein, Kinderrechte im Grundgesetz zu verankern. Warum?

Claudia Kittel: Mit Blick auf die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen (United Nations, UN) hat Deutschland ein großes Umsetzungsproblem – und das seit mehr als 30 Jahren. Für die Pflicht des Staates, alle Kinder und Jugendlichen vor Diskriminierung zu schützen, gilt das ebenso wie für ihr Recht auf Beteiligung. Dabei verpflichtet die Konvention alle Staaten, regelmäßig über Verbesserungen zu berichten. Rückschritte werden nur im Falle von Krieg oder humanitärer Kata-strophen toleriert.

  • E&W: Was würde sich mit der Aufnahme der Kinder-rechte ins Grundgesetz verbessern? Die UN-Konvention ist doch geltendes Recht?

Kittel: Ja! Überall dort, wo Kinder und Jugendliche von Verwaltungshandeln betroffen sind, von der Bildung bis zur Stadtplanung, müsste sie Beachtung finden. Doch ihre Regelungen sind viel zu wenig bekannt – auch bei jenen, die Recht anwenden. Eine Einführung der Kinderrechte ins Grundgesetz würde das ändern.

  • E&W: Zugleich haben Sie den 2021 von der damaligen Großen Koalition vorgelegten Entwurf heftig kritisiert. Warum?

Kittel: Weil eine Regelung im Grundgesetz nicht hinter die völkerrechtlichen Vorgaben zurückfallen darf. Das war aber in dem Entwurf – vom Diskriminierungsverbot bis zum Recht auf Beteiligung – geschehen. Er wäre auch hinter der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zurückgeblieben. Das hat schon 1969 eine weitergehende Formulierung zu Kindern als eigenständigen Rechtssubjekten verwendet.

  • E&W: Wie sieht es mit der Einklagbarkeit aus? Ein Kind kann sich schlecht einen Anwalt nehmen, wenn es seine Rechte verletzt sieht.

Kittel: Doch, das sieht die Konvention – in den zu ihr gehörenden General Comments – in bestimmten Fällen durchaus vor. Österreich zeigt, wie es gehen kann: Dort sorgen spezialisierte Kinderanwältinnen und -anwälte dafür, dass Kinder und Jugendliche vor Gericht selbst Beschwerde führen können. Ein anderer Weg sind außergerichtliche Beschwerdeinstanzen, wie sie seit einigen Jahren mit dem Kinder- und Jugendstärkungsgesetz auch in Deutschland für alle Kinder und Jugendlichen, die Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch (SGB) VIII beziehen, vorgeschrieben sind.

  • E&W: Was sind das für Beschwerdestellen?

Kittel: Ombudsstellen, an die sich junge Menschen und deren Sorgeberechtigte wenden können, die ihre Rechte verletzt sehen. Wer zum Beispiel in einer stationären Einrichtung lebt und denkt, ihm oder ihr sei unrechtmäßig das Taschengeld gekürzt worden, kann sich dort für eine außergerichtliche Einigung melden. Auch der gesamte Kita-Bereich fällt unter das SGB VIII. Bei diesen Ombudsstellen könnten also auch kleine Kinder beziehungsweise deren Eltern mehr Beteiligung einfordern. Seit 2021 sind diese Stellen auf Landesebene vorgeschrieben – und bieten viel Potenzial.

  • E&W: Welche Kinder und Jugendlichen würden von einer Regelung im Grundgesetz besonders profitieren?

Kittel: Verbessern würde sich für alle etwas. Wird darin – wie es die Kinderrechtskonvention vorsieht – ein Recht auf Beteiligung eingeführt, könnten Kinder und Jugendliche die Gesellschaft und ihre Umgebung aktiv mitgestalten. Auch würde es für sie leichter, sich zu organisieren. Ein Erwachsener, der sich mehr Radwege wünscht, kann dem Allgemeinen Deutschen Fahrradclub beitreten. Kindern steht ein solcher Weg häufig nicht offen. Viele Vereine haben Altersgrenzen, Gründungen sind noch komplizierter. Doch wenn der Staat die Stimmen der Kinder und Jugendlichen hören muss, steht er in der Pflicht, Zusammenschlüsse, in denen sie diese erheben können, zu ermöglichen. Das DIMR blickt auf eine Reihe Gruppen, die bislang keine Stimme, aber sehr spezielle Probleme haben: etwa Kinder und Jugendliche, die auf der Straße leben; Kinder von Inhaftierten; Kinder, die – weil ihre Eltern nirgends gemeldet sind – keine Geburtsurkunde bekommen.

  • E&W: Haben Sie Hoffnung, dass sich an den großen Themen Kinderarmut und Bildungsgerechtigkeit durch eine Regelung im Grundgesetz etwas ändern würde?

Kittel: Aus internationalen Studien wissen wir: Wo Instrumente der Kinderrechtskonvention – inklusive Daten- und Beschwerdemanagement, Ombudspersonen und Gesetzesfolgenabschätzungen – umgesetzt sind, kann sich vieles zum Positiven verändern. Allerdings haben wir in Deutschland sehr dicke Bretter zu bohren. Es gibt große Gruppen in vulnerablen Lebenssituationen; etwa all die Kinder und Jugendlichen mit Migrationsgeschichte, die auch laut den Vereinten Nationen zu häufig Diskriminierungserfahrungen machen. Insofern bin ich nicht sehr optimistisch, was schnelle Änderungen angeht.

  • E&W: Sie sind Kindheitspädagogin. Bieten stärkere Kinderrechte auch mit Blick auf demokratische(re) Kitas und Schulen eine Chance?

Kittel: Unbedingt. Die UN-Konvention verpflichtet bereits heute alle Bildungseinrichtungen, Kinder und Jugendliche altersgemäß über ihre Rechte zu informieren. Das müsste also auch in Bildungs- und Lehrplänen stehen – was aber nicht in allen Bundesländern der Fall ist. Eine positive Ausnahme ist Hessen, das die Verbreitung der Kinderrechte fest im Lehrplan verankert hat. Sobald sich alle Kitas und Schulen beteiligen, dürften auch dort die Interessen der verschiedenen Gruppen anders abgewogen werden: bei Entscheidungen über Versetzungen ebenso wie zu Umgangsformen im Unterricht und zu Lerninhalten. Ein Instrument wie der Klassenrat ist da nur ein Beispiel. Ich bin überzeugt: Erleben Kinder, dass nicht über ihre Köpfe hinweg entschieden wird, stärkt das ihre Toleranz und ihr Verständnis von Demokratie*. 

*s. E&W-Schwerpunkthefte „Mitbestimmung in Bildungseinrichtungen“ (1/2022), „Krise der Demokratie: Herausforderungen für das Bildungssystem“ (4/2022) und „Demokratiebildung“ (9/2023)