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Sinti- und Roma-Studierende

„Wir haben ein Recht, gehört zu werden“

Seit einigen Jahren steigt der Anteil Studierender der Minderheit der Sinti und Roma. Im März gründeten sie nun ihren eigenen Studierendenverband.

Noch nie zuvor war Radoslav Ganev als Rom in die Öffentlichkeit getreten. Er hatte es eigentlich auch gar nicht vor. Doch nun steht er am Redepult, von der Moderation angekündigt als Politikwissenschaftler, gebürtig aus Bulgarien – und ein Rom. Das war weder abgesprochen, noch hat es für die Veranstaltung eine große Relevanz. Ganev ist überrumpelt, lässt sich aber nichts anmerken, und bringt den Abend, so gut es geht, hinter sich. Danach die große Überraschung: Man begegnet ihm mit Interesse, ein junger Roma-Student kommt auf ihn zu, bedankt sich für seine Offenheit. Das war ein Wendepunkt für Ganev. Er beginnt, sich für die Interessen der Sinti und Roma einzusetzen, gründet zu diesem Zweck den Verein RomAnity in München, und ist schließlich an der Gründung des ersten Studierendenverbands der Sinti und Roma in Deutschland beteiligt – dem SVSRD.

Etwa 70.000 deutsche Sinti und Roma leben offiziell in Deutschland; mehrere Hunderttausend sind zugewandert. Wie groß ihre Zahl wirklich ist, ist schwierig zu sagen – viele verheimlichen ihre Identität. Aus Angst, den Kindern könnte ihre Herkunft zum Problem gemacht werden, prägen viele Eltern ihnen ein, sich besser nicht als Angehörige der Minderheit zu erkennen zu geben (s. Interview Seite 30 f.).

Studien belegen, dass sie allen Grund haben, sich Sorgen zu machen. Laut dem Bericht der Unabhängigen Kommission Antiziganismus, die die Bundesregierung 2019 eingesetzt hat, kommt dem Bildungssystem für die Diskriminierungserfahrungen der Sinti und Roma – die im Laufe ihres Lebens fast alle machen – eine besondere Bedeutung zu: In der Schule werden sie das erste Mal mit rassistischen Zuschreibungen konfrontiert, hier erleben sie Beleidigungen und Gewalt durch Mitschülerinnen und -schüler sowie mangelnde Unterstützung der Lehrkräfte, hier haben sie aufgrund von Vorurteilen schlechtere Bildungschancen, und das Leid, das den Sinti und Roma im Laufe der deutschen Geschichte zugefügt wurde, wird bestenfalls am Rande thematisiert.

Unterstützung und Rat

Dennoch gelingt es immer mehr -Sinti und Roma – meist auf Umwegen –, das Abitur zu machen und auf die Hochschule zu gehen. So war es auch bei Ganev, der mit neun Jahren nach Deutschland kam, dann trotz guter Noten eine Hauptschulempfehlung erhielt und sich im Anschluss zunächst die Mittlere und schließlich die Hochschulreife erarbeitete. Er schrieb sich an der Uni Bamberg für Politikwissenschaft ein und wurde damit der erste in seiner Familie, der studierte.

Für ihn, wie für viele gut gebildete Sinti und Roma, haben die Bildungsinstitutionen eine widersprüchliche Bedeutung: Einerseits erleben sie hier Ausschluss und Demütigung, andererseits erlangen sie hier das Wissen und die Sprache, die sie brauchen, um Teilhabe und Anerkennung für sich zu beanspruchen. Während ihre Eltern und Großeltern „einfach froh waren, den Krieg überlebt zu haben“, wie Ganev sagt, gehöre er zu „einer neuen Generation, die sich ihr Recht nimmt, gehört zu werden“.

Ausdruck dieses Willens, die eigene Diskriminierung nicht mehr schweigend hinzunehmen, ist auch der SVSRD, der Studierendenverband der deutschen Sinti und Roma. Offiziell gegründet wurde er am 17. März 2021, dem Jahrestag der Anerkennung des Völkermordes an den Sinti und Roma, die erst 1982 durch den damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) erfolgte. Der SVSRD will ein Netzwerk für junge -Sinti und Roma sein. Sie sollen ermutigt werden, ihre Identität selbstbewusst zu leben und in ihrem Wunsch, studieren zu gehen, bestärkt werden. Während des Studiums bietet der SVSRD Unterstützung und Rat an, hilft danach auch beim Einstieg ins Berufsleben. Nicht zuletzt möchte der Verband mehr Forschung zum Thema Antiziganismus anregen.

„Sich offen als Sinto zeigen“

Zum Vorsitzenden des SVSRD wurde Francesco Arman gewählt, der in seiner Schul- und Studienzeit noch nicht auf die Unterstützung zählen konnte, die er mit seinem Engagement nun anderen zukommen lassen will. „Ich hatte keinen besonders linearen Bildungsweg“, erzählt Arman, viele Bildungsinhalte habe er sich erkämpfen müssen, und nur gegen große Widerstände sei er irgendwann an die Hochschule gelangt. Erst als Erwachsener habe er angefangen, sich offen zu seiner Herkunft zu bekennen. Eine Geschichte, wie sie typisch ist für Bildungsaufsteiger aus der Minderheit der Sinti und Roma.

Heute arbeitet Arman als Erzieher in Gießen und belegt Kulturwissenschaften im Fernstudium. Sein neunjähriger Sohn geht in die 4. Klasse. Arman erzieht ihn in dem Bewusstsein, „dass es richtig ist, sich offen als Sinto zu zeigen“. Gleichzeitig bereitet er ihn darauf vor, mit Vorurteilen konfrontiert zu werden, „gegen die man sich wehren muss“. Arman hofft, dass das irgendwann nicht mehr nötig sein wird: In seinen verschiedenen Rollen als Vater, Erzieher und Vorsitzender des SVSRD versucht er, das Bild der Sinti und Roma in der Öffentlichkeit und in den Köpfen der Menschen zu verändern.

Die Jugend ist mutiger

Auch Viktoria Groß, Mitglied im SVSRD und Studentin der Kindheitspädagogik, versucht, Stereotype über Sinti und Roma abzubauen. In ihrem näheren Umkreis bleibt sie aber vorsichtig, gibt ihre Herkunft nur Leuten preis, die sie schon etwas besser kennengelernt hat. Selbst dann erlebe sie noch Ablehnung; doch bei vielen konnte sie ein Hinterfragen der eigenen Vorurteile anregen. „Vor allem möchte ich die jungen Menschen erreichen, die noch offen dafür sind, Neues zu lernen“, sagt Groß. Die Jugend, das sei die Zukunft, glaubt sie.

Generell spüre sie ein vielversprechendes gesellschaftliches Klima, „der Einsatz für Minderheitenrechte ist aktuell Zeitgeist“. Auch würden immer mehr Sinti und Roma mutiger, zeigten zunehmend Präsenz in der Öffentlichkeit. Groß selbst will mit dem SVSRD ein Beispiel setzen, das andere darin bestärkt, sich zur Zugehörigkeit zu der Minderheit zu bekennen. Sie wünscht sich, dass irgendwann niemand mehr aus der Gemeinschaft der Sinti und Roma seine Herkunft als Makel empfindet.