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Hochschulen am Limit

„Wir brauchen Änderungen am System“

Aneignung von geistigem Eigentum, Arbeitsüberlastung, Belästigungen, Demütigungen – die Liste der Vorwürfe gegen Hochschulmitarbeitende in Führungspositionen ist lang.

Prof. Geraldine Rauch ist Mathematikerin und seit 2022 Präsidentin der TU Berlin. (Foto: Philipp Arnoldt Photography)

Was aber sind die Ursachen, und wie können Hochschulen dem Machtmissbrauch entgegenwirken? Darüber sprach E&W mit der Präsidentin der Technischen Universität (TU) Berlin, Prof. Geraldine Rauch.

  • E&W: Wie äußerst sich Machtmissbrauch an Hochschulen?

Prof. Geraldine Rauch: Während Diskriminierungen zwischen allen Hierarchieebenen vorkommen, geht Machtmissbrauch grundsätzlich von einer Person mit mehr Macht, also meist einer Führungskraft aus. An Hochschulen sind dies in der Regel Professorinnen oder Professoren. Man muss hier zunächst unterscheiden zwischen einem Fehlverhalten, das von einer Führungskraft tatsächlich intendiert ist, und einem Verhalten, das in der Struktur der Abhängigkeitsverhältnisse zwischen wissenschaftlichen Mitarbeitenden und Führungskraft begründet ist. 

Die Spannbreite von Machtmissbrauch ist groß: Sie reicht von beruflicher Benachteiligung bis hin zu Mobbing. Auch kleinere, vermeintlich weniger wichtige Dinge können Ausdruck von Machtmissbrauch sein, etwa das Verweigern einer Mitautorenschaft in wissenschaftlichen Publikationen oder die Nichtgewährung einer Dienstreise.

  • E&W: Was sind die Ursachen?

Rauch: Das akademische System in Deutschland ist stark von hierarchischen Strukturen geprägt. In den Hochschulen gibt es verbeamtete Professorinnen und Professoren und meist befristet angestellte wissenschaftliche Mitarbeitende, die in hohem Maße von ihren Professorinnen und Professoren abhängig sind. Sie müssen zum Beispiel befürchten, dass ihr Vertrag nicht verlängert wird, sie nicht mit auf Kongresse fahren dürfen oder von Publikationen ausgeschlossen werden. 

Das erzeugt einen hohen Anpassungsdruck und führt zu einem Klima, in dem sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nicht trauen, etwa auf die Einhaltung von Arbeitszeiten zu beharren oder Aufträge abzulehnen, die sie laut Arbeitsvertrag gar nicht übernehmen müssen. Dabei muss die Führungskraft mitunter eine Drohung nicht einmal explizit aussprechen, es genügt oft, wenn bestimmte Szenarien realistisch im Raum stehen.

  • E&W: Führungskräfte müssen manchmal unbequeme Entscheidungen zum Nachteil von Mitarbeitenden treffen. Wo verläuft die Grenze zum Missbrauch dieser Macht?

Rauch: Tatsächlich ist diese Grenze in der Praxis nicht immer leicht zu ziehen. Natürlich haben Vorgesetzte das Recht, die Qualität der Arbeit ihrer Mitarbeitenden zu bewerten, und es muss Führungskräften möglich sein, entsprechende Konsequenzen zu ziehen, die auch bedeuten können, dass ein Arbeitsvertrag nicht verlängert wird. Das Problem an den Hochschulen ist vielmehr, dass die Gefahr groß ist, dass die Machtposition der Führungskraft aufgrund der strukturellen Rahmenbedingungen systematisch missbraucht werden kann.

  • E&W: Was meinen Sie mit „strukturellen Rahmenbedingungen“?

Rauch: Der Anteil befristeter Beschäftigungsverhältnisse im akademischen Mittelbau ist hoch; Dauerstellen sind in diesem Bereich immer noch die Ausnahme. Das bildet einen Nährboden für Machtmissbrauch, denn der Entzug der Arbeitsstelle stellt eine reale Gefahr dar. Viele Professorinnen und Professoren sind sich dessen gar nicht aktiv bewusst, weil sie es selbst in ihrer akademischen Karriere genauso erlebt haben und es für normal halten.

  • E&W: Inwieweit können die Personalvertretungen an den Hochschulen dem Machtmissbrauch entgegenwirken?

Rauch: Das funktioniert nur bedingt. Es gibt auch an den Hochschulen Anlaufstellen, an die sich Beschäftigte wenden können – von den Personalräten über Frauen- und Gleichstellungsbeauftragte, Antidiskriminierungsbeauftragte bis hin zu Ombudsstellen für Promovierende. Das Problem ist, dass sich Betroffene zwar durchaus bei den Anlaufstellen melden, aber den Namen der Person, denen sie Machtmissbrauch oder übergriffiges Verhalten vorwerfen, nicht nennen wollen, da sie weitere Repressalien oder berufliche Nachteile befürchten. Das schränkt die Interventionsmöglichkeiten stark ein.

  • E&W: Was müsste sich ändern, um dem Machtmissbrauch an Hochschulen entgegenzuwirken?

Rauch: Zum einen braucht es Änderungen in der Struktur, etwa mehr Dauerstellen und längere Vertragslaufzeiten. An der TU Berlin haben wir uns auf eine deutliche Erhöhung des Anteils der Dauerstellen im akademischen Mittelbau geeinigt. Zweitens ist es notwendig, dass die Hochschulleitungen bei Fällen von Machtmissbrauch unverzüglich reagieren und Maßnahmen ergreifen, um ein Klima des Vertrauens zu schaffen. Grundsätzlich aber sollte die Zuordnung der wissenschaftlichen Mitarbeitenden innerhalb der Fachbereiche überdacht werden. Derzeit überwiegt in Deutschland noch das Lehrstuhlprinzip, das heißt, wissenschaftliche Mitarbeitende sind direkt einem Professor oder einer Professorin als „Ausstattung“ zugeteilt. 

Einige Hochschulen haben aber bereits eine Department-Struktur etabliert, bei der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler einer größeren Einheit zugeordnet sind. Eine solche Struktur ist deutlich weniger anfällig für Machtmissbrauch, weil es nicht mehr nur die eine Führungskraft gibt. Drittens braucht das Thema mehr öffentliche Aufmerksamkeit. An der TU Berlin haben wir 2024 erstmals eine international besuchte Tagung zum Thema Machtmissbrauch an Hochschulen organisiert. Nur wenn alle Akteurinnen und Akteure an den Hochschulen, aber auch in der Politik und den Gewerkschaften, sich der Problematik bewusst sind, kann sich wirklich etwas ändern.