Qualität im Ganztag
„Wir arbeiten alle mit demselben Kind“
Während im Westteil der Republik Zigtausende Plätze in der Ganztagsbetreuung fehlen, könnte man sich im Osten entspannt zurücklehnen. Gute, gemeinsame Konzepte zu entwickeln, ist für alle Beteiligten allerdings eine große Herausforderung.
Wer sein Kind in der Grundschule „Am Mühlenfließ“ untergebracht hat, findet dort seit Jahrzehnten auch ein ausgebautes Betreuungsangebot vor. Früh um 6 Uhr beginnen die ersten der acht Erzieherinnen und Erzieher in dem ländlich anmutenden Ortsteil Booßen in Frankfurt (Oder) ihre Arbeit. Bis 16, bei Bedarf bis 17 Uhr sind sie für die Kinder da. Fünf Räume in zwei Gebäuden haben sie in der mehr als 100 Jahre alten Dorfschule zur Verfügung. Weil das nicht reicht, nutzen sie ab Unterrichtsschluss der Erstklässler um 11.15 Uhr auch einige Klassenzimmer. Mittagessen gibt es in der Schulkantine, an der groß in grünen Buchstaben „Grundschule und Fröbel-Hort“ geschrieben steht, aus Platzgründen gruppenweise. Fast 160 der 210 Grundschülerinnen und -schüler besuchen den Hort. In den Klassen 1 bis 4, für die der Hort zuständig ist, sind das so gut wie alle.
Mit Blick aus so manchem westdeutschen Bundesland, wo nach wie vor Zigtausende Plätze fehlen, mögen hier an der Grenze zu Polen paradiesische Verhältnisse herrschen. In ganz Ostdeutschland haben Horte eine lange Tradition: In der DDR gehörte der Schulhort zum Schulkonzept; nach 1989 wurde er in die Kinder- und Jugendhilfe überführt. Wie die Kitas unterliegen Horte nicht den Schulgesetzen, sondern dem Sozialgesetzbuch (SGB) VIII. Als Folge besuchen laut des jüngsten Berichts der Bundesregierung zum Gesetz zur ganztägigen Förderung von Kindern im Grundschulalter (GaFöG) 83 Prozent aller Grundschülerinnen und -schüler im Osten Ganztagsangebote und Horte – gegenüber 47 Prozent im Westen. Und: In Brandenburg haben Eltern bereits heute vom vollendeten ersten Lebensjahr des Kindes bis zur Versetzung in die 5. Klasse einen Rechtsanspruch auf Betreuung.
„Als der Rechtsanspruch kam, war mir sofort klar: Auch in der Kooperation von Horten und Schulen soll nicht alles bleiben, wie es ist.“ (Jeannett Fischer)
Im Grunde könnte man sich in dem Zweieinhalb-Millionen-Einwohner-Land entspannt zurücklehnen. „Das im SGB VIII verankerte GaFöG schreibt einen Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung fest, nicht mehr und nicht weniger“, erklärt Doreen Siebernik, GEW-Vorstandsmitglied für Jugendhilfe und Sozialarbeit, „wer dazu passende Strukturen hat, wird dem Ganzen also gerecht.“ Das Plädoyer der GEW sei indes ein anderes, ergänzt Anja Bensinger-Stolze, GEW-Vorstandsmitglied für Schule: „Unsere Wunschvorstellung ist, die zwei bisher getrennten Systeme zu verknüpfen mit allen Professionen, die in Hort und Schule arbeiten.“ Schließlich hätten Erzieherinnen und Erzieher, Lehrkräfte und Mitarbeitende in der Sozialarbeit alle dasselbe Ziel – den Tag so zu gestalten, dass die Kinder bestmöglich gefördert werden. „Das Kind ins Zentrum stellen“, nennt Siebernik das.
Kerstin Kliefoth sagt es fast wortgleich: „Wir arbeiten alle mit demselben Kind.“ Seit mehr als zehn Jahren ist sie Leiterin der Grundschule „Am Mühlenfließ“. Ihr gegenüber sitzt Jeannett Fischer, Fachberaterin des Hortträgers „Fröbel Bildung und Erziehung gGmbH“ für Ostbrandenburg. Sie sagt: „Als der Rechtsanspruch kam, war mir sofort klar: Auch in der Kooperation von Horten und Schulen soll nicht alles bleiben, wie es ist.“ Da traf es sich gut, dass das Frankfurter Sport- und Schulverwaltungsamt die Grundschule auf das „Investitionsprogramm Ganztag“ des Landes Brandenburg aufmerksam machte. Mit dem Geld aus diesem Programm hofft die Schule, endlich ihre marode Turnhalle sanieren zu können. Gemeinsam machten sich Schulleitung und Hortträger auf den Weg zu einem neuen Konzept.
Pädagogisches Gesamtkonzept
Das allerdings ist nicht im Handumdrehen gemacht. Seit mehr als einem Jahr arbeitet sich auf Initiative der beiden Frauen eine sechsköpfige Steuergruppe aus Schule, Hortträger und Elternvertretern durch einen Leitfaden. Bereits die Überschriften der Kapitel machen deutlich, dass guter Ganztag etwas anderes ist als ganztägige Unterbringung: „Beteiligung“, „Kooperation“, „Raumkonzept“ und „Gesundheit“. Und schon der erste Satz lautet: „Es existiert ein pädagogisches Gesamtkonzept, das von Schule und Kindertageseinrichtung gemeinsam entwickelt wurde und die verschiedenen Bildungssettings (formal, non-formal und informell) berücksichtigt.“ Ebenfalls gefragt: „Mindestens ein gemeinsamer Planungsworkshop mit Beteiligung der Kinder und Eltern.“
Was die Eltern angeht, stellte sich schnell heraus: Obwohl die allermeisten den Hort nutzen, konnten sich nur wenige einen Acht-Stunden-Tag für alle Kinder vorstellen. „Der Wunsch nach Flexibilität ist groß“, sagt Fischer, „der Rahmen, in dem die Eltern mitgingen, war ein gemeinsamer Tag von 7.30 bis 13.40 Uhr. An dem haben wir uns orientiert. Wer länger bleibt, dem steht weiter der Hort offen.“ „Verlässliche Halbtagsschule“ heißt das Modell. Inhaltlich oben auf der Erwartungsliste der Eltern für das neue Modell: die Vermittlung sozialer Kompetenzen.
„Hausaufgaben gibt es nicht mehr, dafür ist künftig die Lernzeit da.“ (Kerstin Kliefoth)
Die Wunschlisten der Kinder fielen vielseitig aus – auch eine Eislaufhalle, ein Schulhund und ein nicht versiegender Schokoladenbrunnen standen darauf. „Doch wir bekamen auch zentrale Hinweise, wie sie sich Schule wünschen“, sagt Kliefoth, „sportliche Angebote sind vielen sehr wichtig.“ Herausgefunden haben der Hortträger und die Schule das mithilfe eines freien Trägers. Mit vier Kindern jeder Klasse veranstaltete dieser einen altersgerechten Workshoptag zu der Frage: Was wünscht ihr euch vom Ganztag?
Konzeptionell orientieren sich Kliefoth, Fischer und die alle sechs bis acht Wochen tagende Steuergruppe an zwei Zielen: Ein strukturierter Tagesablauf mit mehr Bildungsangeboten soll geschaffen und die berufstätigen Eltern sollen entlastet werden. Nach dem weiterhin vormittags stattfindenden Unterricht werden Erzieherinnen, Erzieher und Lehrkräfte gemeinsam ein Mittagsband gestalten, das neben dem Essen auch Spiel, Lesen und andere Aktivitäten umfasst. Danach sind an vier Tagen in der Woche sowohl – unter anderem von externen Kooperationspartnern angebotene – AGen geplant als auch eine individuelle Lernzeit, die Erzieherinnen, Erzieher und Lehrkräfte gemeinsam verantworten. „Hausaufgaben gibt es nicht mehr“, sagt Kliefoth, „dafür ist künftig die Lernzeit da.“ Gestartet wird mit dem neuen Konzept nach den Sommerferien.
„Erzieherinnen und Erzieher oder Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter sind aber nicht Assistenzen der Lehrkräfte.“ (Doreen Siebernik)
All das bedeutet nicht nur Veränderung für die Eltern, Schülerinnen und Schüler, sondern auch für die Kolleginnen und Kollegen. „Bei uns waren Lehrkräfte und Erzieher immer in Kontakt“, erzählt Schulleiterin Kliefoth, „aber bisher doch eher individuell, abhängig von ihrer Zeit und auch von persönlicher Sympathie.“ Fischer, die als Fachberaterin drei Horte und Schulen im Blick hat, macht als Hürde für ein Miteinander der Professionen auch mangelnde Augenhöhe aus: „Ich höre immer wieder von Erzieherinnen, Erziehern und Hortleitungen, dass sie sich nicht gleichwertig behandelt fühlen.“
„Wir hören das auch“, bestätigt GEW-Vorstandsmitglied Siebernik. „Erzieherinnen und Erzieher oder Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter sind aber nicht Assistenzen der Lehrkräfte.“ Ziel müsse sein, die unterschiedlichen pädagogischen Berufsgruppen so zusammenzubringen, „dass jede und jeder in der jeweiligen Profession ernstgenommen wird“, ergänzt Bensinger-Stolze. Während des 30. Gewerkschaftstages der GEW Ende Mai soll diese Haltung in eine Position gegossen werden: „Gemeinsam gestalten wir die Zukunft. Leitbild für eine erfolgreiche Bildung, Erziehung und Betreuung im Ganztag“, heißt ein Antrag, der dort vorgelegt wird.
„Ein gemeinsames Leitungsbüro wäre ein Traum.“
In Frankfurt (Oder) führte der Weg in die gemeinsame Zukunft die acht Erzieherinnen und Erzieher sowie 14 Lehrkräfte unter anderem in ein Seminargebäude an einen nahen See. Für den Teamtag wurde – über den GEW-Hauptvorstand – eine Expertin der Akademie für Ganztagspädagogik gewonnen, die den Tag mitgestaltete und moderierte. „Immens hilfreich“ nennen Fischer und Kliefoth den Tag rückblickend. „Miteinander reden, nicht übereinander – das wird auch im Alltag eine Gelingensbedingung sein“, ergänzt Fischer.
Dafür wäre es gut, wenn die Hort- und die Lehrkräfte auch in der Schule näher zusammenrücken. Aktuell haben die Erzieherinnen und Erzieher und die Hortleitung einen Raum in dem Flachbau neben der Schulmensa, die Lehrkräfte und die Schulleitung ihren Platz im ersten Stock des Altbaus. „Ein gemeinsames Leitungsbüro wäre ein Traum“, sagt Schulleiterin Kliefoth, allerdings einer, der wohl nicht umgesetzt werden kann. Denn dafür bräuchte es Umbauten, die das Investitionsprogramm Ganztag bisher nicht hergibt. Andererseits gehört auch zur Wahrheit: Viele Horte und Schulen sind mehrere hundert Meter voneinander entfernt. „Ein gemeinsamer Standort ist ein enormer Vorteil“, sagt Fachberaterin Fischer, die in den nächsten Monaten noch weitere Kooperationen voranbringen will. Bereits jetzt ahnt sie: „So reibungslos wie hier wird es nicht überall laufen.“