Muss es denn wirklich immer eine Hausarbeit sein? Eigentlich könnte die Hochschullehre mal etwas Neues vertragen, dachte sich Friederike Elias, Soziologin an der Uni Heidelberg. Zusammen mit ihrem Kollegen Christian Vater, einem Philosophen, erforscht die 39-Jährige, wie Wissen dokumentiert und weitergegeben wird. Und gemeinsam fragten sie sich: Wie wäre es, wenn die Studierenden statt einer Hausarbeit einen Wikipedia-Artikel verfassten? Vor knapp zwei Jahren setzten sie ihre Idee um.
„Die Schreibprozesse ziehen sich viel länger hin als bei einer normalen Hausarbeit“, berichtet Elias von den Erfahrungen mit der neuen Form der Leistungsnachweise. Die Artikel, etwa zu soziologischen und philosophischen Aspekten der Liebe, zur Theorie digitaler Medien oder zum Stichwort „kollektive Identität“ entstanden in seminarbegleitenden Übungen. „Danach kamen mehrere Review-Prozesse, immer wieder gab es Überarbeitungen und Verbesserungen“, erzählt die Soziologin. Kein Wunder, schließlich gilt die Wikipedia-Community als äußerst diskussionsfreudig: Wer hier einen Text veröffentlicht, der kann fest mit umfangreichem – und kritischem – Feedback rechnen.
„Akademikerinnen und Akademiker müssen sich in öffentliche Diskussionen einmischen und der Kritik stellen“, sagt Elias. Ein Lexikoneintrag sei dabei eine selten geübte, gleichwohl aber wissenschaftliche Textform, die genau das ermöglicht. Und weil mit Wikipedia im Netz ein öffentliches Lexikon zur digitalen Verfügung steht, sei das ein passender Leistungsnachweis für Studierende. Ansonsten, sagt die Soziologin, die im Sonderforschungsbereich „Materiale Textkulturen“ arbeitet, seien die Auswirkungen der Digitalisierung auf die Hochschulen oft noch überschaubar. „Vieles mit dem Label ‚digital‘ ist nicht wirklich neu, sondern stellt oft nur eine Transformation von Bekanntem in neue Medien dar.“
„Wegen der öffentlichen Sichtbarkeit und dem Zwang, sich kurz und dennoch verständlich und richtig auszudrücken, haben die Studierenden viel mehr über das eigene Schreiben reflektiert.“ (Friederike Elias)
So beschränke sich E-Learning auf der an vielen Hochschulen genutzten Moodle-Plattform häufig auf Serviceangebote: „Früher gab es in der Bibliothek den Semesterapparat als Kopiervorlage, heute werden die Texte zum Download bereitgestellt.“ Elias will mit ihren Kolleginnen und Kollegen mehr ausprobieren: „Wir versuchen, die Studierenden dazu anzuregen, eigene Datenbanken aufzubauen, ihre Inhalte auszutauschen und digitale Kommunikationsforen zu nutzen.“ Dabei machen sie die Studierenden auch mit modernen Managementtechniken bekannt, etwa der Scrum-Methode zum schrittweisen, flexiblen Entwickeln von Projektergebnissen, stark ausgehend von den Impulsen der Akteure – in diesem Fall also der Studierenden.
Fertige Rezepte für eine digitale Hochschullehre hat Elias nicht. „Ich bin ständig dabei, meine eigenen Lehrmethoden zu überdenken“, sagt die Soziologin. Wichtig ist ihr, Studierende noch stärker in Planungsprozesse einzubeziehen und sich selbst nicht als Wissensvermittlerin, sondern als Lernbegleiterin zu begreifen. In einem Forschungsseminar zum Thema „Herausforderungen für Organisationen im digitalen Zeitalter“, das sie zusammen mit Elizangela Valarini konzipiert hat, zeigt sich, wie das konkret aussehen kann: Dort erforschen sechs Studentinnen, wie die Hochschule 4.0 mit Blick auf Digitalisierung und Personalentwicklung gestaltet werden kann. In Interviews mit Forschenden sowie der Personalentwicklungsabteilung der Uni Heidelberg wollen sie untersuchen, welche Anforderungen im Zuge der Digitalisierung an Hochschulen tatsächlich bestehen und wie man diesen gerecht werden kann**.
Das Wikipedia-Experiment jedenfalls hat Elias Mut gemacht. „Wegen der öffentlichen Sichtbarkeit und dem Zwang, sich kurz und dennoch verständlich und richtig auszudrücken, haben die Studierenden viel mehr über das eigene Schreiben reflektiert.“ Die Text- und Wissensproduktion sei damit nachhaltig verändert worden: „Das hat sich auf jeden Fall bewährt!“