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Wie retten wir die Demokratie?

Die AfD könnte bei der Europawahl so gut wie noch nie abschneiden. Trotz zahlreicher Skandale sind die Umfragewerte der rechtsextremen Partei nach wie vor gut. Woran liegt das?

Demo gegen rechts (Foto: Christian Lue auf Unsplash)

Es ist ein Paradox: Die AfD hat ein Programm, das Reiche stark begünstigt und für die große Mehrheit der Menschen, die sie wählen, schlimme Auswirkungen hätte. Es fordert die Streichung von Sozialleistungen, die Abschaffung des Mieterschutzes, Steuersenkungen für Reiche und Großkonzerne wie die Abschaffung der Erbschaftssteuer und des Solidaritätszuschlages. Noch absurder ist es, dass die AfD den Bauern die Hälfte ihres Einkommens wegnehmen will – durch Streichung der EU-Subventionen. Sie will eine Abschottung Deutschlands von der EU und vom Weltmarkt und würde damit Millionen von Arbeitsplätzen zerstören. Auch will sie ausgerechnet den neuen Bundesländern, wo sie am meisten gewählt wird, die Einnahmen radikal kürzen, indem der Länderfinanzausgleich reduziert wird.

„Viele Menschen wählen die AfD nicht deshalb, weil sie Protest ausdrücken wollen. Sie wählen sie trotz ihrer Verfassungsfeindlichkeit, trotz ihrer Menschenverachtung, trotz ihres unsinnigen Programmes.“

Daher ist es verwunderlich, dass Menschen mit geringeren Einkommen und aus den neuen Bundesländern deutlich überproportional AfD wählen. Wer etwas daran ändern will, muss also verstehen, worin die Ursachen für die AfD-Wahlerfolge liegen. Erklärt wird das oft mit der Einwanderung. Tatsächlich neigen Menschen in kritischen Zeiten zu Revierverhalten - zur Ablehnung von Fremden. Doch die Wahl rechtschauvinistischer Politiker und die Ausgrenzung von Minderheiten findet weltweit statt – in Indien und Argentinien, in Russland und Ungarn, in Polen und Italien. Viele dieser Länder sind Staaten, in denen die Menschen eher wegziehen als einwandern. Migranten sind also nicht Ursache, wohl aber eine Projektionsfläche für Fremdenfeindlichkeit. Das bedeutet aber: Weniger Einwanderung löst das Problem nicht.

Viele Menschen glauben, dass es bergab geht. Sie wählen die AfD nicht deshalb, weil sie Protest ausdrücken wollen. Sie wählen sie trotz ihrer Verfassungsfeindlichkeit, trotz ihrer Menschenverachtung, trotz ihres unsinnigen Programmes. Der Grund ist die Wut im Bauch. Wut auf die Intellektuellen, die Grünen, die Besserwisser, die Woken usw.

Angst vor den Folgen notwendiger Veränderungen

Aber woher kommt diese Wut? Tatsächlich stehen wir vor der größten Veränderung unserer Gesellschaft seit der Industrialisierung. 250 Jahre war unser Leitbild das „Wachstum“, das Versprechen, dass es wenigstens den Kindern besser ging. Und das stimmte so auch. Ein Sozialhilfeempfänger hat heute mehr Komfort und Wärme in der Wohnung als der König von Frankreich zur Zeit der französischen Revolution.

Doch so geht es nicht weiter. Der Planet ist endlich. Wir befinden uns im Übergang von einer Wachstums- zu einer Gleichgewichtsgesellschaft. Das muss nicht schlimm sein. Aber solche Übergänge sind mit erheblichen Verwerfungen verbunden: Die Weltfinanzkrise und die Euro-Krise, der Klimawandel, die Corona-Krise und dann noch der Ukraine-Krieg. Kaum ein Mensch glaubt heute noch, dass es den Kindern besser gehen wird als uns.

Die Wut im Bauch wächst – und das Vertrauen in die Demokratie nimmt ab. Nach einer Umfrage des NDR im Oktober 2023 sind nur noch 54 Prozent der Bürgerinnen und Bürger damit zufrieden, wie in Deutschland die Demokratie funktioniert – in Mecklenburg-Vorpommern sogar nur noch 32 Prozent. Schaut man aber genauer hin, dann hängt die Antwort vor allem von der sozialen Lage der Menschen ab. Denn von den Gutverdienern sind zwei Drittel mit der Demokratie zufrieden. Bei den Geringverdienern finden dagegen zwei Drittel, dass die Demokratie nicht gut funktioniert. Das ist ein extrem signifikanter Unterschied. Wohlhabende finden Demokratie gut, Arme zweifeln an ihr.

Die neue Klassengesellschaft

Der Soziologe Andreas Reckwitz analysiert, dass die Mittelstandsgesellschaft der Nachkriegszeit mittlerweile in eine neue Klassengesellschaft auseinandergebrochen ist. Laut Reckwitz gibt es heute vier Klassen: Die neue Mittelklasse der Akademikerinnen und Akademiker, die mittlerweile 30 Prozent der Bevölkerung umfasst. Die alte Mittelklasse der Bürgerinnen und Bürger mit Berufsausbildung – Facharbeiter, Handwerker, Bauern und Angestellte. Sie haben die Bundesrepublik und auch die DDR nach dem Krieg aufgebaut. Drittens die prekäre Klasse, die aus häufig arbeitslosen Gelegenheitsarbeiterinnen und -arbeitern und aus der Service-Klasse besteht – den Paketzustellern, Sicherheitsdiensten, Reinigungsdiensten usw. Und schließlich das eine Prozent, die Oberklasse, bestehend aus den Reichen und der neuen Nadelspitze obendrauf, der Liga der hyperreichen Milliardäre.

Entscheidend für die aktuellen Verwerfungen der Politik ist aber, dass die Akademikerinnen und Akademiker, die neue Mittelklasse, die Politik dominieren – auch in den früheren Arbeiterparteien wie der Linken und der SPD. Nicht nur im Parlament, auch in den Medien, den Verbänden und sogar in den Bürgerinitiativen dominieren sie – übrigens auch in der AfD. In den Betrieben wird man ohne Hochschulabschluss kaum noch Gruppenleiterin oder -leiter, während früher kompetenten Facharbeiterinnen und -arbeitern der Weg über den Meister, den Hallenmeister bis ins mittlere Management offenstand.

Wer in Deutschland nicht aufs Gymnasium kommt, ist schon im Alter von 10 Jahren ein Mensch zweiter Klasse. Das erklärt, warum viele Menschen den „Experten“ im Fernsehen nicht mehr glauben. Warum ein Bauer neulich sagte, schlimmer als die Grünen seien die studierten Ökobauern. Warum Verschwörungstheorien auf fruchtbaren Boden fallen.

Wider den Pessimismus – wir können es gemeinsam schaffen

Was folgt daraus? Wir werden die Menschen nur zurückgewinnen, wenn wir sie ernst nehmen. Arbeiterinnen, Bauern, Pflegekräfte und Erzieherinnen, Postboten und Reinigungskräfte sind tragende Säulen unserer Gesellschaft. Sie brauchen die materielle und ideelle Anerkennung, die sie verdienen. Sie müssen mehr gehört werden. Und wir brauchen mehr Gerechtigkeit!

Insbesondere müssen wir aus dem Krisenmodus herauskommen. Eine Regierung, die erfolgreich sein will, muss eine positive Vision malen. Die Politik, aber auch die Nichtregierungsorganisationen, die Klimabewegung und schließlich die Medien müssen aufhören, Zukunftspessimismus zu verbreiten, und stattdessen Wege zu einem gemeinsamen solidarischen Zusammenleben propagieren. Wir können den Klimawandel stoppen, wir können die Ungleichheit abbauen. Zugleich muss alles getan werden, um die Einwanderung gut zu managen. Die „Neuen“ müssen so schnell wie möglich die deutsche Sprache lernen und Arbeit aufnehmen. Und wir brauchen ausreichend günstige Wohnungen – und zwar für alle!

Aber die wichtigste Botschaft lautet: Auch ohne Wachstum von Bevölkerung und Ressourcenverbrauch können wir die Lebensqualität durch unseren Erfindungsreichtum weiter steigern. Dazu müssen wir unsere Arme unterhaken und die Herausforderungen gemeinsam in Angriff nehmen.

Der Autor war von 2000 bis 2005 und 2006 bis 2009 Vorsitzender der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Landtag von Schleswig-Holstein.