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Tarifrunde 2022: Sozial- und Erziehungsdienst Kommunen

Wie groß ist der Personalmangel?

Prof. Kirsten Fuchs-Rechlin, Projektleiterin der Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte (WiFF) am Deutschen Jugendinstitut, über neue und alte Anreize, um den Personalmangel in den Kitas zu bekämpfen.

In der Corona-Pandemie stehen die Beschäftigten in der frühkindlichen Bildung unter einem hohen Druck. (Foto: Kay Herschelmann)
  • E&W: Beschäftigte im Sozial- und Erziehungsdienst (SuE) stehen gerade in der Pandemie unter Druck. Gleichzeitig wächst der Fachkräftemangel – vor allem in den Kitas. Wie viel neues Personal wird hier gebraucht? 

Prof. Kirsten Fuchs-Rechlin: Laut Prognose der Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik wird es bis 2025 eine Lücke von 20.000 bis 70.000 Fachkräften geben, die nicht über die Ausbildung gewonnen werden können. Sie fehlen vor allem in Westdeutschland. Im Osten entspannt sich die Lage etwas. Der Zahlenkorridor ist so groß, weil der Bedarf unter anderem von der Demografie abhängt, die sich nicht ganz genau prognostizieren lässt.

  • E&W: Das Forschungsinstitut Prognos und die Bertelsmann Stiftung beziffern den Bedarf deutlich höher (s. Seite 10 ff.).

Fuchs-Rechlin: Es hängt davon ab, was man gegenrechnet. Bei den Zahlen, auf die ich mich beziehe, wurde geschaut: Wer ist aktuell im System drin, wer geht raus und wer kommt voraussichtlich neu rein. Das Ergebnis dieser Rechnung ist die eben genannte Personallücke.

E&W: In manchen Bundesländern müssen Kitas schon jetzt Notbetreuungen anbieten, weil Personal fehlt. Wie geht es den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern?

  • Fuchs-Rechlin: Die Teams geraten unter Druck, wenn sie dauerhaft mit zu wenig Personal arbeiten. Das variiert allerdings je nach Bundesland – auch weil es keine einheitlichen Personalschlüssel gibt. Im Osten sind die Schlüssel schlechter als im Westen. Wenn es im Osten laut den Prognosen demnächst eine gewisse Entspannung gibt, dann wäre das eine gute Gelegenheit, das „Plus“ beim Personal nicht einzusparen, sondern in den Qualitätsausbau zu stecken.

E&W: Bei einer ver.di-Befragung unter Kita-Fachkräften gaben 40 Prozent an, über einen Stellenwechsel nachzudenken. 25 Prozent überlegen demnach, ganz aus dem Beruf auszusteigen. Erschreckt Sie das?

  • Fuchs-Rechlin: Ich vermute, das ist ein Corona-Effekt. Wenn eine Einrichtung beim Personal sowieso schon am Limit ist, und dann kommt noch eine Krise obendrauf, kann ich mir den Befund gut erklären.

E&W: Heißt das, dass die Fachkräfte eigentlich gern in ihrem Job arbeiten?

  • Fuchs-Rechlin: Die Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte hat eine qualitative Studie zu beruflichen Wegen in der Kita erstellt. Nach dieser zeichnet sich nicht ab, dass Erzieherinnen und Erzieher permanent auf dem Absprung sind. Das zeigt auch der Altersdurchschnitt in den Kitas. Es gibt einen stabilen Kern an Fachkräften, die lange im Job bleiben. Die jungen Fachkräfte sind vielleicht etwas wechselwilliger.
  • E&W: In Großstädten können viele Erzieherinnen und Erzieher von ihrem Gehalt kaum die Miete zahlen. Kann man so neue Leute gewinnen?

Fuchs-Rechlin: Mehr Geld wäre sicher ein Anreiz. Das sehen wir daran, wie gut die vergütete dreijährige praxisintegrierte Ausbildung angenommen wird – übrigens auch häufiger von Männern, anders als bei der klassischen vollzeitschulischen Ausbildung, bei der es kein Gehalt gibt.

  • E&W: Was muss noch passieren, um den Personalmangel zu beheben?

Fuchs-Rechlin: In Rheinland-Pfalz können Kitas profilergänzende Kräfte einstellen. Die Vorgabe ist, dass mindestens 70 Prozent Fachkräfte sein müssen, dann können bis zu 30 Prozent mit anderen Qualifikationen besetzt werden. Voraussetzung: Sie müssen zur Konzeption passen. Wenn also eine Kita einen Bewegungsschwerpunkt hat, würde jemand aus dem Sportbereich passen. Eine Natur-Kita könnte zum Beispiel eine Gärtnerin einstellen.

  • E&W: Die GEW sieht es kritisch, wenn Personal-mangel mit Fachfremden abgefedert wird. Wie bewerten Sie das?

Fuchs-Rechlin: Es geht ja nicht darum, viele Fachfremde einzustellen, sondern den Spielraum zu erweitern – gerade mit Blick auf multiprofessionelle Teams. Wichtig ist, die pädagogische Qualifizierung nicht aus den Augen zu verlieren. Generell gilt: Um Personalmangel zu bekämpfen, muss man an vielen Stellschrauben drehen. Quereinstieg ist eine davon.

  • E&W: Viele Fachkräfte klagen über zu wenig Raum für Weiterbildung. Was wäre hier zu tun?

Fuchs-Rechlin: Es müsste mehr Angebote zur Weiterentwicklung im Job geben. Helfen könnte eine Spezialisierung, etwa für das Qualitätsmanagement oder die Digitalisierung. Die Einrichtung von Karrierewegen ist eine wichtige Entwicklungsaufgabe für die Kita – auch mit Blick auf neues Personal.

  • E&W: Mit dem Rechtsanspruch auf den Ganztag in den Grundschulen wird der Personalbedarf im Sozial- und Erziehungsdienst weiter steigen. Wie ist Ihre Prognose?

Fuchs-Rechlin: Das hängt davon ab, wie der Ganztag in den Ländern organisiert ist und welche Qualitätsstandards gelten. Bislang gibt es keine genauen Zahlen, wie viele Fachkräfte in Ganztagsschulen tätig sind. Auch das erschwert Prognosen. Aber insgesamt steht das System vor neuen Herausforderungen. Umso wichtiger ist es, Zugangswege auf allen Ebenen zu schaffen. Das heißt: den Blick nicht nur nach unten oder zur Seite zu richten, sondern auch nach oben, in Richtung der hochschulqualifizierten Fachkräfte. Das wurde in den vergangenen Jahren vernachlässigt. 

„Wichtig ist, die pädagogische Qualifizierung nicht aus den Augen zu verlieren. Generell gilt: Um Personalmangel zu bekämpfen, muss man an vielen Stellschrauben drehen. Quereinstieg ist eine davon.“ (Prof. Kirsten Fuchs-Rechlin, Foto: WiFF / Astrid Klammt)