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Landtagswahlen 2024

Wichtig ist Zivilcourage

Im September werden in Thüringen, Sachsen und Brandenburg neue Landtage gewählt. Die AfD könnte in allen drei Ländern stärkste Partei werden und künftig sogar in der Regierung sitzen. Demokratische Pädagoginnen und Pädagogen sind alarmiert.

Am 1. September wählen die Bürgerinnen und Bürger in Thüringen einen neuen Landtag. Am selben Tag wird in Sachsen gewählt, am 22. September in Brandenburg. (Foto: IMAGO/Herrmann Agenturfotografie)

Was auf Thüringen zurollt, ist eine Welle, es geht um nicht mehr und nicht weniger als die Machtfrage. Darum, wer nach der Landtagswahl am 1. September Mehrheiten hat: die AfD? Oder die demokratischen Parteien? Mitte Mai wiesen die Umfragen 30 Prozent für die AfD aus, bei der Wahl zum Europaparlament Anfang Juni lag die Partei nur in Brandenburg knapp unter 30 Prozent; in Thüringen und Sachsen darüber. Die Rechtsextremen punkten vor allem bei der Jugend. Laut einer im Februar veröffentlichten Civey-Umfrage sind „Asyl“ und „Migration“ die Themen, die zwei Drittel der thüringischen Jungwählerinnen und -wähler am meisten umtreiben. Mehr als die Hälfte von ihnen traut der AfD die größte Lösungskompetenz zu. Bei der Europawahl erhielt die AfD in der Altersgruppe der 16- bis 24-Jährigen knapp 16 Prozent der Stimmen. In der Gesamtbevölkerung erhielt die AfD 15,9 Prozent der Stimmen.

„Völkische Narrative, antisemitische Verschwörungstheorien und extremistisches Gedankengut treten auch im Raum Schule immer häufiger zutage und treffen dabei auf eine Schulgemeinschaft, die personell, materiell und vom Wissen her schlecht vorbereitet ist.“ (aus dem öffentlichen Hilferuf der ostdeutschen Landesschülervertretungen)

In den ostdeutschen AfD-Hochburgen ist der Rechtsruck am weitesten vorangeschritten. Und damit auch in Thüringen. Wo auch immer man sich hier umhört, ob im Eichsfeld oder in Städten wie Gera oder Erfurt, berichten Lehrkräfte über Hakenkreuzschmierereien und rassistische Witze. Auch klar verfassungsfeindliche Aussagen gelten zunehmend als legitime Meinungsäußerung. Selbst in der Studierendenstadt Jena, die als demokratische und linke Oase in Thüringen gilt, tendiere die Mehrheit der Berufsschülerinnen und -schüler zur AfD, berichtet ein Lehrer. Auf dem Land hat sie mancherorts das Meinungsmonopol.

Und das auch dank verfestigter rechter Strukturen. In Thüringen gibt es die SA-Fans vom „Dritten Weg“, in Erfurt mobilisiert die Kaderpartei „Neue Stärke“. Zahlreiche Nazi-Kader wie Tommy Frenck (Hildburghausen), der im Mai bei der Landratswahl in Hildburghausen in die Stichwahl kam und im Juni in dieser 30,5 Prozent der abgegebenen Stimmen erhielt, oder Thorsten Heise (Fretterode) leben in dem Land, in dem Björn Höcke mit seinem besonders rechtsextremen AfD-Landesverband nach der Macht greifen will.

Das, was Lehrkräfte und Erzieherinnen in Thüringen berichten, deckt sich denn auch eins zu eins mit dem jüngst veröffentlichten Hilferuf der ostdeutschen Landesschülervertretungen: „Völkische Narrative, antisemitische Verschwörungstheorien und extremistisches Gedankengut treten auch im Raum Schule immer häufiger zutage und treffen dabei auf eine Schulgemeinschaft, die personell, materiell und vom Wissen her schlecht vorbereitet ist.“

 „Wir erreichen in unseren Workshops nur ein paar wenige. Wenn ich mir überlege, wie viele Menschen hinter 30 Prozent AfD stehen, wird mir schwindlig.“ (Ludwig Sonntag)

Welch fatale Folgen der Lehrkräftemangel hat, merkt auch Ludwig Sontag. „Politische Äußerungen haben oft unpolitische Ursachen“, sagt der Chemnitzer, der ehrenamtlich für Colored Glasses arbeitet, eine seit rund 20 Jahren existierende Organisation, die Workshops für Toleranz und Demokratie anbietet. „Wer die ganze Aufmerksamkeit auf sich ziehen will: mit rassistischen Sprüchen geht das.“ Der entsprechende Schüler werde dann fatalerweise oft als „ganz Schlimmer“, „als Problemschüler“ gebrandmarkt. So wie derjenige, mit dem Sontag gerade ins Gespräch kam und der berichtete, dass er sich seit dem Auszug des Stiefvaters um seine vier kleinen Geschwister kümmern müsse und die Hausaufgaben nicht mehr schaffe. „Früher hatten auch Lehrerinnen und Lehrer Zeit für solche Gespräche, heute ist das kaum mehr möglich.“

Trotz seines Idealismus kennt indes auch Sontag das Gefühl der Ohnmacht angesichts der politischen Stimmungslage: „Wir erreichen in unseren Workshops nur ein paar wenige. Wenn ich mir überlege, wie viele Menschen hinter 30 Prozent AfD stehen, wird mir schwindlig.“

Lehrkräfte müssen nicht politisch neutral sein

Das Seminar „Resiliente Schulen zur Landtagswahl“ in Jena ist ausgebucht, wie landesweit alle Workshops, die den Umgang mit Rechtsaußen behandeln. Organisiert wird es von der GEW und dem „Verfassungsblog“, ein akademischer Open Access Blog zu verfassungsrechtlichen und rechtspolitischen Themen. Wie Viktor Orbán in Ungarn und die PiS in Polen argumentiere auch die AfD „mit und nicht gegen die Verfassung“ – mit dem Ziel, diese nach einem möglichen Wahlsieg umso effektiver aushöhlen zu können, sagen die Referentinnen Ilka Maria Hameister (GEW) und Marie Müller-Elmau (Verfassungsblog).

Die Überzeugung, dass Höcke, käme er an die Macht, das Gleiche tun würde, ist der Grund, warum die rund 25 Teilnehmerinnen und Teilnehmer erfahren wollen, was sie tun könnten, wenn die Rechten an die Regierung kämen. Dass Sexualkunde dann ebenso zur Disposition stünde wie der inklusive Unterricht oder die NS-Erinnerungskultur, ist dem AfD-Programm zu entnehmen, aber könnte die Höcke-Partei auch sofort in den Schulen „durchregieren“?

Nein, sagt Müller-Elmau und erörtert die Begriffe „Schulfrieden“ oder das „Neutralitätsgebot“, das viele Lehrerinnen und Lehrer so interpretierten, dass sie politisch neutral sein müssten. Das aber stimmt nicht. Zwar sollen Lehrkräfte gemäß dem „Überwältigungsverbot“ des Beutelsbacher Konsenses konträre Positionen zulassen und diskutieren. „Neutral“ im Sinne von „meinungsfrei“ müssten sie aber nicht argumentieren: „Ihr habt einen Eid auf die Werte des Grundgesetzes geschworen, die sollt ihr auch im Unterricht vertreten“, betont Müller Elmau. Dass die Lehrpläne zunehmend offen formuliert werden, sei da Chance und Risiko, ergänzt eine Lehrerin aus Ostthüringen: „Das eröffnet uns auch Handlungsspielräume, die kein Ministerium einschränken kann.“

1. Überwältigungsverbot

Es ist nicht erlaubt, den Schüler – mit welchen Mitteln auch immer – im Sinne erwünschter Meinungen zu überrumpeln und damit an der „Gewinnung eines selbständigen Urteils“ zu hindern. Hier genau verläuft nämlich die Grenze zwischen Politischer Bildung und Indoktrination. Indoktrination aber ist unvereinbar mit der Rolle des Lehrers in einer demokratischen Gesellschaft und der – rundum akzeptierten – Zielvorstellung von der Mündigkeit des Schülers.

2. Was in Wissenschaft und Politik kontrovers ist, muss auch im Unterricht kontrovers erscheinen.

Diese Forderung ist mit der vorgenannten aufs engste verknüpft, denn wenn unterschiedliche Standpunkte unter den Tisch fallen, Optionen unterschlagen werden, Alternativen unerörtert bleiben, ist der Weg zur Indoktrination beschritten. Zu fragen ist, ob der Lehrer nicht sogar eine Korrekturfunktion haben sollte, d. h. ob er nicht solche Standpunkte und Alternativen besonders herausarbeiten muss, die den Schülern (und anderen Teilnehmern politischer Bildungsveranstaltungen) von ihrer jeweiligen politischen und sozialen Herkunft her fremd sind.

Bei der Konstatierung dieses zweiten Grundprinzips wird deutlich, warum der persönliche Standpunkt des Lehrers, seine wissenschaftstheoretische Herkunft und seine politische Meinung verhältnismäßig uninteressant werden. Um ein bereits genanntes Beispiel erneut aufzugreifen: Sein Demokratieverständnis stellt kein Problem dar, denn auch dem entgegenstehende andere Ansichten kommen ja zum Zuge.

3. Der Schüler muss in die Lage versetzt werden, eine politische Situation und seine eigene Interessenlage zu analysieren,

sowie nach Mitteln und Wegen zu suchen, die vorgefundene politische Lage im Sinne seiner Interessen zu beeinflussen. Eine solche Zielsetzung schließt in sehr starkem Maße die Betonung operationaler Fähigkeiten ein, was eine logische Konsequenz aus den beiden vorgenannten Prinzipien ist. Der in diesem Zusammenhang gelegentlich erhobene Vorwurf einer „Rückkehr zur Formalität“, um die eigenen Inhalte nicht korrigieren zu müssen, trifft insofern nicht, als es hier nicht um die Suche nach einem Maximal-, sondern nach einem Minimalkonsens geht.

Quelle: Bundeszentrale für politische Bildung

Marie Müller-Elmau (Verfassungsblog, links) und Maria Hameister (GEW, rechts) schulen in Thüringen Lehrkräfte im Umgang mit der AfD. (Foto: Christoph Ruf)

„Wenn die Eltern AfD-affin sind, gilt dies auch für die Kinder. Es sei denn, der Nachwuchs revoltiert gegen das Elternhaus.“ (Maximilian von Wichert)

Heute, im Raum 385 der Jenaer Uni, haben viele zum ersten Mal seit langem wieder gemerkt, dass sie nicht alleine sind in ihrer Gegnerschaft zur AfD, deren Thesen auch in ihren Kollegien vertreten werden. Dementsprechend zufrieden ist auch Müller-Elmau: „Wir wollen, dass die Leute nicht mit einem Ohnmachtsgefühl rausgehen. Dass sie Handlungsspielräume sehen und Lust haben, sich zu vernetzen.“

Auch Maximilian von Wichert, der an einer Regelschule in Gera unterrichtet, hat das Seminar als „empowernd“ empfunden. Er sieht zwei wichtige Faktoren, die den rechten Zeitgeist begünstigen: „Wenn die Eltern AfD-affin sind, gilt dies auch für die Kinder. Es sei denn, der Nachwuchs revoltiert gegen das Elternhaus.“ Zum anderen – und das sei noch gravierender: „Social Media. Bei TikTok und YouTube haben die Rechten mehr Reichweite als alle anderen Parteien zusammen.“

Dank der Algorithmen, erzählt eine Seminar-Teilnehmerin, könne auch sie sich nicht mehr vor AfD-Propaganda retten, seit sie über die Partei recherchiere. „Und bei vielen Schülerinnen und Schülern bleibt da bei dem Dauerfeuer etwas hängen.“ NS-Propaganda, Memes und Hitlergrüße beispielsweise, die auf TikTok oder in WhatsApp-Gruppen geteilt werden. Klassischen Medien, Zeitungen und öffentlich-rechtlichen Sendern glaube in diesen Kreisen sowieso keiner mehr.

„Informationen“ aus dem Netz dürften auch hinter der Weigerung zweier Schülerinnen stecken, die Gedenkstättenfahrt nach Buchenwald mitzumachen. Auf „diese Scheiße“ hätten sie „keinen Bock“, erklärten die zwei einer verdutzten Kollegin, erzählt von Wichert. Er habe das allerdings nicht auf sich beruhen lassen. Von Wichert will die beiden nicht „aufgeben“. Überhaupt sei er „heilfroh“ über den Geist an seiner Schule: „Hier sind viele weltoffene Kolleginnen und Kollegen, die eine klare Haltung haben. Und die wird auch von der Schulleitung unterstützt.“ Rechtliche Fragen seien wichtig, sagt er. „Aber genauso wichtig ist Zivilcourage.“