Königsteiner Schlüssel
Wer wenig hat, dem soll mehr gegeben werden
Wie lassen sich Bundesmittel für Schulen so an die Länder verteilen, dass soziale Ungleichheit abgebaut wird? Dazu gab die GEW ein Gutachten in Auftrag. E&W sprach mit einem der Autoren, dem Erziehungswissenschaftler Detlef Fickermann.
- E&W: Was stört Sie am Königsteiner Schlüssel, dem bisherigen Verteilmechanismus für Bundes-mittel?
Detlef Fickermann: Ursprünglich war das ein Instrument, um außeruniversitäre Forschungseinrichtungen zu finanzieren. Der Königsteiner Schlüssel sollte dafür sorgen, dass finanzstarke Bundesländer größere Lasten tragen. Seit Jahren dient das Instrument aber dazu, Bundesmittel zu verteilen. Damit wurde die ursprüngliche Intention ins Gegenteil verkehrt. Wir erleben den Matthäus-Effekt: Wer hat, dem wird gegeben. Reiche Bundesländer bekommen mehr Geld als arme.
- E&W: Das Gutachten präsentiert als Alternative den „Multiplen Benachteiligungsindex“, kurz MBI. Er soll helfen, Bildungsbenachteiligungen abzubauen. Welche Kriterien fließen in den MBI ein?
Fickermann: Wir haben insgesamt neun Indikatoren, die wir zu vier Dimensionen zusammengefasst haben. Die Dimensionen sind die Wirtschafts- und Finanzkraft des Landes, die soziale Bedürftigkeit, der Bildungsstand der Bevölkerung und weitere Bevölkerungsangaben, zum Beispiel der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund, die jünger als 18 Jahre sind.
- E&W: Käme der MBI zum Einsatz, würden Länder wie Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Berlin mehr Geld bekommen. Warum diese Länder?
Fickermann: In Berlin zum Beispiel ist die soziale Bedürftigkeit besonders hoch. Außerdem leben dort überdurchschnittlich viele Menschen mit Migrationshintergrund. Wenn wir den MBI nutzen, bedeutete dies, dass Berlin mehr Geld bekommt als bisher.
- E&W: Sie haben auch geprüft, ob ein Verteilungsschlüssel, der auf dem MBI aufbaut, rechtlich umsetzbar ist. Mit welchem Ergebnis?
Fickermann: Verteilungsschlüssel müssen bestimmten Anforderungen genügen. Sie müssen sachlich und rational nachvollziehbar sein mit Bezug auf die Zielsetzung der Finanzhilfe. Sie müssen frei von Willkür und transparent sein. Und sie dürfen nicht gegen das Gleichheitsprinzip verstoßen; kein Land darf benachteiligt werden. Der MBI-basierte Verteilungsschlüssel, den wir vorschlagen, erfüllt diese Kriterien.
E&W: Sie gehen noch weiter und plädieren dafür, auch in jedem Bundesland einen MBI zu entwickeln. Damit es auch auf Länderebene möglich wird, Gelder so zu verteilen, dass soziale Ungleichheit abgebaut wird. Welche Hindernisse sehen Sie?
Fickermann: Es fehlen Daten. Längst nicht alle Länder haben den sogenannten Kerndatensatz eingeführt. Damit sind Individualdaten für die Schulstatistik gemeint. Es wird zum Beispiel nicht in allen Bundesländern erhoben, wie viele Schülerinnen und Schüler einen Migrationshintergrund haben. Nur wenige Länder haben einen Sozialindex, der genutzt wird, um bedürftige Schulen zusätzlich zu fördern.
- E&W: Wer müsste aktiv werden, damit alle Bundesländer Individualdaten erheben?
Fickermann: Die Kultusministerkonferenz hat das Thema seit Jahren immer wieder behandelt. Zuletzt wurde im Herbst 2020 beschlossen, dass der Kerndatensatz umzusetzen ist. Ich bin pessimistisch, dass das gelingt.
- E&W: Die Bundesregierung will laut Koalitionsvertrag 4.000 besonders benachteiligte Schulen durch das Programm „Startchancen“ zusätzlich fördern. Ist schon bekannt, welcher Verteilungsschlüssel eingesetzt werden soll?
Fickermann: Nein, das ist noch nicht bekannt. Bund und Länder sollen erste Gespräche über das „Startchancen-Programm“ geführt haben. Erste Eckpunkte sind von der Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) für den Frühherbst angekündigt worden. Ich hoffe natürlich, dass wir mit unserem Gutachten plausible Alternativen aufzeigen, wie man Mittel verteilen kann. Noch besser wäre, für das „Startchancen-Programm“ gar keinen Verteilungsschlüssel zugrunde zu legen, der die Gelder den Ländern zuteilt. Stattdessen könnten wir die 4.000 Schulen anhand einheitlicher Kriterien länder-übergreifend auswählen. Ebenso die 4.000 weiteren Schulen, die zusätzlich Stellen für Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter erhalten sollen. Wie diese Kriterien aussehen könnten, dazu werde ich in Kürze zusammen mit Kolleginnen und Kollegen einen Vorschlag zur Diskussion stellen.