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Digitalisierung

Wer sorgt für den Mehrwert?

Welche gesellschaftlichen Folgen hat die Digitalisierung? Welche Reformen sind nötig? Antworten gibt Timo Daum, 52 Jahre, Physiker, Dozent für digitale Wirtschaft und Buchautor.

Hunderttausende, die als Selbstständige mit dem Laptop im Café oder im Park arbeiten, sind formal Unternehmer, aber ohne eigenes Kapital. (Foto: imago images/Westend61)
  • E&W: Sie schreiben, der Kapitalismus wird aktuell durch die Digitalkonzerne neu erfunden. Wer sorgt denn, nach Karl Marx, für den „Mehrwert“ im Digitalen Kapitalismus?

Timo Daum: In der Industrieproduktion entsteht der Mehrwert durch die Ausbeutung lebendiger Arbeit. Wenn wir uns anschauen, wie Facebook oder Google operieren, dann sehen wir keine Fabriken und keine fassbaren Produkte mehr, sondern digitale Plattformen. Auf diesen wird nicht mehr im klassischen Sinne gearbeitet. Stattdessen tummeln sich dort Milliarden Nutzerinnen und Nutzer. Wir sind es, die sämtlichen Inhalt auf diesen Plattformen schaffen. Dabei spielt es keine Rolle, ob ich ein Video hochlade, also klassischerweise Produzent bin, oder ob ich mir dieses Video nur anschaue. In beiden Fällen generiere ich Daten. Und die Digitalkonzerne machen damit Profit.

  • E&W: Erfüllen die Userinnen und User weitere Aufgaben, ohne entlohnt zu werden?

Daum: Wenn wir ein Auto kaufen, dann erwarten wir, dass es fertig ist. In der Software-Welt geht es anders zu. Geliefert wird ein halbfertiges Produkt, die Beta-Version. Die Nutzerinnen und Nutzer liefern Fehlerberichte und helfen so, das Produkt weiterzuentwickeln. Der Autohersteller Tesla, der aus der digitalen Welt kommt, agiert genauso. Tesla wird vorgeworfen, die Autos hätten Mängel. Da klappert‘s, da zieht‘s und so weiter. Aber das ist Absicht. Tesla sagt: Wir bringen eine Beta-Version auf die Straße. Unsere Kunden geben Feedback. Und wir sammeln diese Daten und optimieren das Auto.

  • E&W: Hunderttausende arbeiten als Selbstständige mit dem Laptop im Café, sind kreativ, ernähren sich vegan, fahren Fahrrad – und finden das toll. Sie aber üben Kritik. Warum?

Daum: Das ist ein Lebens- und Arbeitsstil, der zunächst ganz keck und revolutionär daherkommt. Als Kritik am grauen Angestellten-Dasein. Doch der Lifestyle dieser „Digitalen Bohème“ geht synchron mit den Anforderungen des Digitalen Kapitalismus. Ein gutes Beispiel ist der Fahrdienst Uber. Die haben weltweit etwa dreieinhalb Millionen Fahrerinnen und Fahrer. Uber vermeidet aber konsequent den Begriff Beschäftigte oder Fahrer. Deren Standpunkt ist: Jemand, der für Uber Auto fährt, ist im Prinzip auf dem gleichen Level wie jemand, der eine Fahrt nachfragt – beide sind Kunden. Die sehen sich als Plattform, auf der unternehmerisch handelnde Rechtssubjekte zusammenkommen – und anschließend wieder verschwinden.

  • E&W: Welche Gefahren bringt das mit sich?

Daum: Wir sehen das ja aktuell in der -Corona-Krise. Diejenigen, die schon nach zwei Wochen Existenzängste bekamen, das waren die prekär beschäftigten Selbstständigen, die Freiberuflerinnen und Freiberufler, die keine großen Rücklagen haben. Weil sie formal Unternehmer sind, aber ohne eigenes Kapital.

  • E&W: Könnte das bedingungslose Grundeinkommen helfen? Statt Sozialleistungen für Bedürftige monatlich 800 oder 1.000 Euro für alle?

Daum: Das ist durchaus ein emanzipatorisches Konzept. Arbeit und Einkommen werden entkoppelt. Eine neue Entwicklung ist allerdings, dass viele Stimmen das Grundeinkommen aus einem sehr liberalen, kapitalistischen Kalkül heraus fordern. Zum Beispiel Unternehmer aus dem Silicon Valley. Denn das Grundeinkommen passt wie die Faust aufs Auge zum Digitalen Kapitalismus. Nach dem Motto: Dann können wir die Armada der Selbst-Unternehmer ein bisschen absichern, damit sie nicht gleich verhungern, wenn Krise ist. Ich bin überzeugt, dass wir so was Schritt für Schritt bekommen werden.

  • E&W: Welche Reformen brauchen wir? Könnten die Nutzerinnen und Nutzer ein Stück vom Kuchen der Digitalkonzerne abbekommen?

Daum: Es gibt den Vorschlag, Micro Payments einzuführen. Für jeden Klick, jedes Like, jedes hochgeladene Foto bekommt die Userin, der User eine minimale Zahlung. Aber das verstärkt noch den Verwertungsaspekt im Digitalen Kapitalismus. Jedem Atemzug wird sozusagen ein Preis zugeordnet. Ich finde das nicht sehr sympathisch.

  • E&W: Wie sieht Ihr Gegenmodell aus?

Daum: Ich möchte gerne nach vorne sehen. Ich finde, dass wir mit Google und anderen eine tolle Sache geschaffen haben. Die halbe Welt trägt zu einem Wissenspool bei. Historisch gesehen ist das eine großartige Leistung. Wir müssen den Digitalen Kapitalismus nach vorne auflösen. Das heißt, die private Aneignung dieser gesellschaftlichen Produktivkraft rückgängig machen. Auch die Corona-Krise zeigt: Die richtigen Maßnahmen sind die, die erstens die ganze Welt im Blick haben und zweitens auf das öffentliche Wohl gerichtet sind. Der Markt und der eigene Profit blamieren sich gerade und sind absolut kontraproduktiv.

  • E&W: Könnte der Staat die Digitalkonzerne zwingen, ihren Datenschatz der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen, etwa für die Verkehrsplanung?

Daum: Das ist eine Debatte, die gerade geführt wird. Die Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo sagt über Verleihsysteme für Fahrräder, Scooter und Autos: Lasst ein Digitalunternehmen diese Systeme etablieren. Ab einem bestimmten Zeitpunkt soll die Stadt das dann übernehmen. Wenn eine Kommune es schafft, so ein Angebot selbst zu betreiben, dann stellen sich fantastische Synergieeffekte ein. Weil all die Daten, die da generiert werden, bei der Institution landen, die sie zur Verkehrsplanung nutzen kann. Damit lassen sich zum Beispiel Fahrradwege und -abstellplätze besser planen.

  • E&W: Was müssen Schulen leisten, damit junge Menschen in der digitalisierten Welt zurechtkommen?

Daum: Ich bin überzeugt, dass es nicht darum geht, mehr Computer und Tablets in den Unterricht zu bringen. Das ist ein verfehlter Ansatz. Die jungen -Leute wachsen mit der digitalen Technik auf. Was Schulen vermitteln sollten, ist Selberdenken, Analysieren, Kritisieren, Informationen einschätzen zu können und Autoritäten zu hinterfragen.

Timo Daum (Foto: Fabian Grimm)