Zum Inhalt springen

Arm und reich in Deutschland

Wer ist arm, wer reich?

Für den Dramatiker Bertolt Brecht war die Sache klar: „Reicher Mann und armer Mann standen da und sahn sich an. Und der Arme sagte bleich: Wär‘ ich nicht arm, wärst du nicht reich“, schrieb er 1934. Heute ist die Definition schwerer.

Fast 16 Prozent der in Deutschland lebenden Menschen gelten laut Destatis als armutsgefährdet. (Foto: Pixabay / CC0)

Niemand in Deutschland muss verhungern oder verdursten. Existenzielle Armut gibt es also nicht. Gleichwohl existiert hierzulande Armut. Wir können sie sehen, wenn wir vor die Tür gehen: Menschen, die als Obdachlose unter Brücken leben, Kinder, die betteln, Rentnerinnen und Rentner, die bei der Tafel für Essen anstehen. Aber lässt sich Armut in Euro und Cent ausdrücken? Als armutsgefährdet gilt jemand, wenn er oder sie weniger als 60 Prozent des Medianeinkommens zur Verfügung hat.

Laut Statistischem Bundesamt liegt aktuell der Schwellenwert für einen Ein-Personen-Haushalt bei einem Nettoeinkommen von rund 1.060 Euro. Zwei Erwachsene mit zwei Kindern, die jünger als 14 Jahre sind, gelten als armutsgefährdet, wenn sie zusammen und nach Einbeziehung staatlicher Transferleistungen ein Einkommen von weniger als 2.231 Euro pro Monat zur Verfügung haben. Fast 16 Prozent der in Deutschland lebenden Menschen sind demnach armutsgefährdet.

„Armut wird seit den ALG-2-Reformen als persönliches Scheitern empfunden und nicht mehr als Ergebnis gesellschaftlicher Benachteiligung.“ (Christoph Butterwegge)

Der Politikwissenschaftler und Armutsforscher Christoph Butterwegge hält solche Zahlen allerdings für wenig aussagekräftig. „Wer unter diesem Limit liegt, ist nicht nur einkommensarm, sondern muss noch seine Miete bezahlen“, und diese sei für viele Familien in den vergangenen Jahren immer mehr gestiegen – und habe das zur Verfügung stehende Einkommen noch einmal reduziert, sagt er der E&W. Es sei daher ausgesprochen schwierig, eine absolute Armutsgrenze zu bestimmen. Jugendliche, die in Deutschland im Winter mit Sommerkleidung und -schuhen in die Schule kämen, von Mitschülerinnen und -schülern ausgelacht würden und sich schämten, aus einer Hartz-IV-Familie zu kommen, seien sicherlich nicht von existenzieller Armut betroffen, würden aber unter der Stigmatisierung, arm zu sein, leiden, so Butterwegge weiter. Diese Dimension von Armut könne die Statistik, auf die sich die Politik gerne berufe, überhaupt nicht erfassen. „Armut wird seit den ALG-2-Reformen als persönliches Scheitern empfunden und nicht mehr als Ergebnis gesellschaftlicher Benachteiligung.“

Der Forscher macht noch auf etwas anderes aufmerksam: Bis vor 20 Jahren galten 50 Prozent des arithmetischen Mittels (Durchschnitt aus allen Einkommen) als Armutsgrenze. Im ersten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung 2001 tauchte aber zum ersten Mal der Median als zusätzliche Messgröße auf, also der mittlere Wert aller erfassten Einkommen. Im 2005 vorgelegten zweiten Bericht war er dann schon das alleinige Maß. Durch die Neujustierung der Armutsrisikoschwelle sowie die Einführung des Medians sei die Armutsquote statistisch gesenkt worden, kritisiert Butterwegge. Mit anderen Worten: Ein nicht unwesentlicher Teil der Menschen mit niedrigen Einkommen gilt heute nicht mehr als armutsgefährdet. Butterwegge hält es für sinnvoll, beide statistischen Maßeinheiten zu verwenden. Wenn das arithmetische Mittel deutlich über dem Median liege, spreche dies für eine extrem ungleiche Einkommensverteilung in der Gesellschaft.

Statistisch reich gerechnet

Eine solche Einkommensverteilung fördert extremen Reichtum. Doch statistisch ist auch die Reichtumsschwelle schwierig zu erfassen. Es gebe in der Politik die Tendenz, den „wahren Reichtum zu verschleiern“, kritisiert Butterwegge. Laut des aktuellen Armuts- und Reichtumsberichts beginnt Reichtum bei einem monatlichen Nettoeinkommen von 3.894 Euro und einem Nettovermögen von 500.000 Euro. Lege man die Definition des Berichts zugrunde, würde schon ein Oberstudienrat als einkommensreich und die Besitzer eines Eigenheims oder einer Eigentumswohnung in guter Wohnlage bereits als vermögensreich gelten. Diese Menschen seien sicherlich wohlhabend oder sogar sehr wohlhabend, aber nicht reich, so Butterwegge.

Auch die alle fünf Jahre vom Statistischen Bundesamt durchgeführte Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) liefert keine zufriedenstellende Antwort auf die Frage „Wer ist reich?“. Bei der Quotenstichprobe, zu der auch Fragen nach dem Geld- und Sachvermögen gehören und an der sich 0,2 Prozent der Haushalte in Deutschland freiwillig beteiligen, endet die Einkommensskala bei einem Haushaltsnettoeinkommen von 18.000 Euro im Monat; Verdienste, die darüber liegen, werden nicht erfasst.

„Reich ist, wer ein großes (Netto-)Vermögen besitzt, es aber gar nicht antasten muss, um von den Erträgen (Zinsen, Dividenden, Mieteinnahmen und/oder Pachterlösen) bis zum Tod auf höchstem Wohlstandsniveau leben zu können.“

Wenig hilfreich ist auch der jährliche Mikrozensus, bei dem 1 Prozent der Bevölkerung, also etwa 830.000 Menschen, nach ihren Lebensumständen befragt werden. Im Gegensatz zur EVS gibt es beim Mikrozensus eine Auskunftspflicht. Der Statistiker Gerd Bosbach kritisiert jedoch, dass das Statistische Bundesamt im Mikrozensus zwar Nettoeinkommen von über 18.000 Euro im Monat erfasst, das Ergebnis aber nicht im Detail veröffentlicht. Stattdessen, so der Statistiker 2017 in einem Interview mit dem Wirtschaftsmagazin „Oxi“, würden alle Menschen, die mehr als 4.500 Euro netto monatlich verdienen, zur Gruppe der Gutverdienenden zusammengelegt. Laut Mikrozensus beginnt Einkommensreichtum also bei einem Netto-Verdienst von 4.500 Euro. Bosbach: „Das ist gerade einmal gehobener Mittelstand.“

Auch aufgrund solcher statistischer Nebelkerzen ist es sinnvoll, der Definition aus dem Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung eine andere entgegenzusetzen: „Reich ist, wer ein großes (Netto-)Vermögen besitzt, es aber gar nicht antasten muss, um von den Erträgen (Zinsen, Dividenden, Mieteinnahmen und/oder Pachterlösen) bis zum Tod auf höchstem Wohlstands-niveau leben zu können“, heißt es in dem von Butterwegge zusammen mit seiner Frau, der Erziehungswissenschaftlerin Carolin Butterwegge, verfassten jüngsten Buch.

Je reicher, desto einflussreicher

Und noch etwas charakterisiert für Butterwegge Reichtum: „Wer reich ist, ist auch politisch einflussreich. Er kann Einfluss über Lobby-Organisationen, Parteispenden oder auch Stiftungen ausüben.“ Gerade Stiftungen seien problematisch, sagt Butterwegge. Sie würden immer häufiger originär staatliche Aufgaben übernehmen, auch im Bildungssektor. „Wenn aber einzelne Reiche bestimmen, wohin sich eine Gesellschaft entwickelt, dann ist das politisch problematisch.“

Dass das Vermögen in Deutschland sehr ungleich verteilt ist, verschärft das Problem zusätzlich. Laut Angaben des Präsidenten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, besitzen 40 Prozent der Bevölkerung kein nennenswertes Vermögen, auf das sie im Alter oder im Krankheitsfall zurückgreifen können. Über 32 Millionen Menschen lebten quasi von der Hand in den Mund, so Carolin und Christoph Butterwegge; sie seien „nur eine Kündigung oder einen Unfall von der Armut entfernt“.

Nicht an Kultur und Bildung sparen

Legt man diese Zahlen zugrunde, dann müssten nicht 16, sondern 40 Prozent der in Deutschland lebenden Menschen als armutsgefährdet gelten. Sie sind bei schwerer Krankheit oder Jobverlust entweder auf funktionierende private bzw. familiäre Netzwerke oder die staatlichen sozialen Sicherungssysteme angewiesen.

Und sie brauchen einen Staat, der nicht an Kultur und Bildung spart. Wenn aufgrund klammer öffentlicher Kassen städtische Schwimmbäder sowie Bibliotheken, Jugendzentren und Theater schließen müssen, komme es immer mehr auf den eigenen Geldbeutel an, so Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes. Menschen mit niedrigen Einkommen könnten sich die Eintrittspreise in die privaten Sauna- und teuren Erholungslandschaften nicht leisten; von den Ausgaben für kommerzielle Kultur- und Bildungsangebote ganz zu schweigen, mahnt Schneider in dem von ihm 2015 herausgegebenen Buch „Kampf um die Armut. Von echten -Nöten und neoliberalen Mythen“ (Westend-Verlag).