Und wieder ging es direkt los: Wenn sich Jens (Name geändert) auf einen Stuhl setzte, rückte sein Mitschüler demonstrativ weg. Wenn er nach einem Stift fragte, brüllte der andere laut: „Für dich sicher nicht!“ Sagte Jens etwas im Unterricht, verdrehten Klassenkameraden demonstrativ die Augen. Irgendwann sagte er lieber gar nichts mehr, stand in der Pause alleine auf dem Hof. „Wenn so etwas über Monate geht, macht das kaputt“, sagt Lehrerin Heide Eckert vom Schuldorf Bergstraße in der Nähe von Darmstadt. Von Mobbing betroffene Schülerinnen und Schüler wollen nicht mehr zur Schule gehen, ihre Noten werden schlechter, sie ziehen sich zurück, klagen über Bauchschmerzen und Kopfweh.
Eine 2017 veröffentlichte Sonderauswertung der PISA-Studie zum Wohlbefinden von Jugendlichen hat festgestellt, dass in Deutschland fast jeder sechste 15-Jährige mehrfach im Monat von teils massivem Mobbing betroffen ist. „Für manche ist die Schule ein Ort der Qual“, schreiben die Autoren des OECD-Reports. Auch die Angst vor Mobbing ist groß. Einer aktuellen Untersuchung der Bertelsmann Stiftung zufolge fürchtet sich jedes dritte Kind an Haupt-, Gesamt- oder Sekundarschulen davor, ausgegrenzt, gemobbt oder geschlagen zu werden.
„Klar ist, dass es mit Ermahnungen nicht getan ist.“ (Wilfried Schubarth)
Der Bildungsforscher Wilfried Schubarth stellt klar: „Mobbing gibt es überall.“ Der Erziehungswissenschaftler von der Universität Potsdam hat zusammen mit Kollegen der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg untersucht, wie Lehrkräfte damit umgehen. Das Ergebnis: „Prinzipiell kann man sagen, dass sie nicht wegschauen, sondern ihren Erziehungsauftrag ernst nehmen.“ Eine Befragung zeigte, dass sieben von zehn Lehrkräften etwas vom letzten Mobbingfall in der Klasse mitbekommen haben. Lediglich 3 bis 4 Prozent spielten die Vorfälle herunter.
Allerdings reagierten Lehrerinnen und Lehrer konkret sehr unterschiedlich. In der Regel führten sie ein Gespräch mit Täter und Opfer – und verhängten Strafen wie Einträge oder Tadel. „Klar ist, dass es mit Ermahnungen nicht getan ist“, betont Schubarth. Wichtig sei nicht nur der Blick auf Täter und Opfer, sondern vor allem die Frage: Wer unterstützt den Täter beziehungsweise die Täterin? Und wer schaut weg? Bei Mobbing handele es sich um eine Gruppendynamik, sagt der Wissenschaftler. Deshalb gelte es, den Konflikt mit der ganzen Klasse aufzuarbeiten. Seiner Meinung nach müssen Lehrkräfte klar Grenzen setzen, „auch um andere abzuschrecken“.
Doch im Ernstfall sind Lehrkräfte oft überfordert. So ging es auch Eckert. Jens war damals neu in ihrer Klasse. „Mein erster Mobbingfall“, sagt sie rückblickend. Der Zwölfjährige hatte schon mehrmals die Schule gewechselt, weil er so gehänselt wurde. Doch auch seine neuen Mitschüler stempelten ihn als „Nerd“ ab. „Als ich mitbekommen habe, dass es wieder losging, war ich so unglücklich. Ich wusste nicht, wie ich helfen kann“, sagt die Klassenlehrerin. Deshalb meldete sie sich zusammen mit ihrer Kollegin Sybille Schwarz zu einer Weiterbildung an. Drei Tage lang lernten sie, was sie gegen Mobbing tun können.
„Auf keinen Fall vor der Klasse in Anwesenheit der Opfer oder – noch schlimmer – in Abwesenheit der Opfer über den Fall sprechen.“ (Sybille Schwarz)
Die oberste Regel lautet: „Auf keinen Fall vor der Klasse in Anwesenheit der Opfer oder – noch schlimmer – in Abwesenheit der Opfer über den Fall sprechen“, betont Schwarz. Sonst erlitten sie erneut einen Kontrollverlust. So eine Situation könne äußerst peinlich sein. Auch die Sozialpädagogin Anne Korbach, Leiterin der Schulsozialarbeit in der Darmstädter Innenstadt Nord, dringt auf ein sensibles Vorgehen. Oft hätten die Opfer große Angst, danach noch mehr „gedisst“ zu werden. Wichtig sei, ihnen klar zu machen: „Du bist nicht schuld.“
Zuerst sollten sich Lehrkräfte mit dem Opfer besprechen – auch um zu klären, ob es sich tatsächlich um Mobbing handele, so Schwarz. Nicht wenige Eltern nähmen das Wort oft vorschnell in den Mund. Die Lehrerin berichtet von einer Mutter, die in einer Mail schrieb: „Mein Sohn ist heute im Sportunterricht gemobbt worden.“ Doch bei Mobbing geht es nicht um einmalige Hänseleien. Dahinter steckt System. Die Attacken erstrecken sich über einen längeren Zeitraum, es ist nicht nur eine Person beteiligt, es herrscht ein Kräfteungleichgewicht – und das Opfer kommt nicht alleine aus der Situation heraus.
Eckert und Schwarz haben beobachtet, dass Jungen öfter handgreiflich werden. Sie nehmen ihr Opfer in den Schwitzkasten, stellen ihm ein Bein, schubsen es herum oder schlagen zu. Mädchen gehen subtiler vor. Fest steht: „Beides ist gleichermaßen verletzend“, sagt Bildungsforscher Schubarth. Im Kern, betont Sozialpädagogin Korbach, sei das Vorgehen von Mädchen und Jungen weitgehend ähnlich: Sie schließen andere aus, bilden Grüppchen, drehen sich weg, schneiden Fratzen oder lästern übers Aussehen. Darauf angesprochen, erwiderten sie meist: „War doch nur Spaß.“
Prinzipiell gilt: Es gibt kein Patentrezept gegen Mobbing. Viele Schulen setzen im ersten Schritt auf den sogenannten No-Blame-Approach. Der Ansatz verzichtet bewusst auf Schuldzuweisungen oder Bestrafungen – und zielt darauf ab, die Situation für das Opfer zu verbessern. Dabei wird aus vier bis acht Schülerinnen und Schülern eine Unterstützergruppe gebildet. Offiziell sollen sie einem Kind helfen, das sich in der Klasse nicht wohl fühlt. Auch die Täter werden einbezogen. „Dabei geht es um alltägliche Dinge“, so Korbach. Ein Mädchen bietet an, sich neben das Kind zu setzen, ein anderes will es mal nach Hause einladen. Nach vier Wochen wird geguckt, ob sich etwas verbessert hat.
„Es gibt einen Punkt, an dem es nichts mehr zu schwätzen gibt.“ (Anne Korbach)
Die Täterinnen und Täter haben meist selbst ein Problem. Wer glücklich und ausgeglichen sei, müsse nicht andere fertigmachen, meint Eckert: „Mobbing ist Druck, der weitergegeben wird.“ Diese Überzeugung teilt Korbach. Die Sozialpädagogin berichtet von einem Mädchen, das zu Hause von seinen Eltern geschlagen wurde. Als kurz darauf ein Mobbingfall auf ihrem Schreibtisch landete, stutzte sie: Haupttäterin war jenes Mädchen, das eben noch als Opfer in ihrer Beratung saß. Doch klar sei auch: Wenn das Mobbing nicht aufhört, müssten Konsequenzen folgen. „Es gibt einen Punkt, an dem es nichts mehr zu schwätzen gibt“, betont Korbach.
Neben Intervention spielt Prävention eine zentrale Rolle. Das A und O, so Schubarth, sei der Erziehungsauftrag. Wichtig sei vor allem, soziale Kompetenzen in der Klasse zu stärken. Dabei gelte es zu klären: „Wie wollen wir miteinander umgehen? Und wie lösen wir Konflikte?“ Sich Zeit dafür zu nehmen, sei wichtiger, als den Stoff durchzuziehen. Zur Unterstützung benötigten Schulen mehr Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, fordert der Wissenschaftler. Doch auch die Lehrkräfte müssten sich mehr sozialpädagogische Kompetenzen aneignen. Im Studium spielten solche Themen eine Nebenrolle. Vielerorts tut sich etwas. Schulen setzen Soziales Lernen auf den Stundenplan, trainieren Schülerinnen und Schüler im Umgang mit Konflikten und bilden Präventionsteams.
Im Schuldorf Bergstraße ist Matilda aktiv gegen Mobbing. Die 16-Jährige geht in alle 6. Klassen und bietet Workshops an. Mit einem Rollenspiel sollen sich die Schülerinnen und Schüler in die Opfer hineinversetzen, spüren, wie es sich anfühlt, ausgegrenzt zu werden. „Für viele ist das eine krasse Erfahrung“, sagt Matilda. Im Stuhlkreis ermutigt sie die Mädchen und Jungen, von ihren eigenen Erfahrungen zu berichten – und macht immer wieder klar: „Ihr könnt euch jederzeit an mich wenden, wenn ihr Hilfe braucht.“ Sie findet: „Jeder hat das Recht, ohne Angst in die Schule zu gehen.“
Für Jens wurde die Situation damals etwas besser. Nach ihrer Fortbildung hat Eckert direkt den No-Blame-Approach ausprobiert, zunächst mit Erfolg. Jens habe sich in der Pause hinter Lehrkräften versteckt, weil ihm alle helfen wollten, berichtet die Lehrerin. Doch letztlich sei der Junge ein Außenseiter geblieben. Immerhin habe das Mobbing aufgehört. Und Jens blieb in der Klasse. „Er sagte zu mir, dass alles in Ordnung sei. Da habe ich fast geweint.“