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Keine Demokratie ohne Demokratiebildung

Wer die meisten Muggelsteine hat, gewinnt

Kita-Verfassung, Kinderrat und Beteiligung am Alltag: Bereits in der Kita können demokratische Werte und Regeln eingeübt und gelebt werden. Entscheidend sind Haltung und Einstellungen der pädagogischen Fachkräfte.

Foto: Babette Brandenburg

Mit großen Buchstaben malt Maja* ihren Namen unter das Schreiben an den Bürgermeister der schleswig-holsteinischen Kleinstadt Halstenbek, Claudius von Rüden (SPD). Darin fasst der Kinderrat die Ergebnisse des Spielplatz-Checks durch die rund 100 Kinder der Kita „Lotte Lemke“ zusammen. Abgetippt hat ihn die stellvertretende Kita-Leiterin Petra Sanow. „Es gibt keine Klos“, erzählt die fünfjährige Maja. „Wir fragen den Bürgermeister, ob er welche baut.“ Um das zu besprechen, wollen sie ihn in die Kita einladen.

Alle zwei Wochen treffen sich Maja und die anderen Gruppensprecher zum Kinderrat. Geleitet wird das achtköpfige Gremium von Dilek Hagemann-Akay. „Hier können die Kinder wichtige Themen ansprechen, und wir versuchen, gemeinsam Lösungen zu finden“, berichtet die Erzieherin. „Auf diesem Weg beteiligen sie sich an der Gemeinschaft.“ Sie diskutieren über Kita-Verfassung, Hausschuhpflicht auf den Fluren und hin und wieder über Themen jenseits des Kita-Zauns. „Demokratie heißt auch, ich möchte etwas bewegen und werde gehört“, so Hagemann-Akay. Dabei geben stets die Kinder die Themen vor. Dieses Beteiligungsprojekt hat seinen Ursprung in der Beschwerde eines Kindes, dass auf einigen Spielplätzen so viel Müll herumliege. Daraus entwickelten sie gemeinsam die Idee, ihre Lieblingsplätze zu begutachten und auf einer Ankreuzliste zu bewerten. „Wir haben geguckt, ob es genug Mülleimer gibt. Ob die Geräte kaputt sind und ob da auch Sachen für die Kleinen sind. Und ob es ein Klo gibt“, erzählt der sechsjährige Justin*.

„Kinder eignen sich Demokratie durch Partizipation an.“ (Rüdiger Hansen)

Dass der Kinderrat den Bürgermeister zu einem Treffen in der Kita einlädt, werden Maja und Justin den Kindern ihrer Wind-Gruppe beim nächsten Gruppenrat berichten. Von denen wurden sie zu ihren Sprechern, den „Weitersagern“, gewählt. Dafür hatten die Kandidatinnen und Kandidaten richtige Wahlplakate entworfen: Sie haben Fotos von sich aufgeklebt und etwas dazu gemalt. In einer geheimen Wahl im Nebenraum hat jedes Kind seinen Muggelstein auf eines der Plakate gelegt. „Wer die meisten Muggelsteine bekommt, hat gewonnen“, erklärt Justin. Seit bald zwei Jahren ist die Kita „Lotte Lemke“ eine zertifizierte „Demokratie-Kita“, wie eine Plakette neben der Eingangstür verrät: Hier lernen die Kinder spielerisch, wie Demokratie bereits in der Kita funktioniert.

Angesichts von Politikverdrossenheit und zunehmend extremen Einstellungen werden die Forderungen lauter, dass Demokratiebildung nicht erst in der Schule, sondern bereits in der Kita beginnen sollte. „Mündigkeit, demokratisches Verhalten und Konfliktfähigkeit sind Themen in der Kita und auch in der Arbeit mit den Familien“, sagt der Koblenzer Pädagogik-Professor Armin Schneider. Demokratie entstehe jedoch nicht von selbst. Vielmehr müssten bereits in der Kita entsprechende Werte und Regeln wie Toleranz, der Umgang mit Mehrheitsentscheidungen und das Respektieren von Minderheiten eingeübt und gelebt werden.

Auch das Kinder- und Jugendhilfegesetz fordert die Erziehung des Kindes zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit. „Dazu gehört die Haltung, sich für die eigenen Belange und die der Gemeinschaft zuständig zu fühlen. Zudem die Kompetenz, sich konstruktiv zu streiten, also eigene Interessen vertreten, sich in andere hineinversetzen und es aushalten können, wenn man sich nicht durchsetzen kann“, erläutert Sozialpädagoge Rüdiger Hansen, der im Kieler Institut für Partizipation und Bildung (IPB) das Konzept für Partizipation in Kindertageseinrichtungen Kinderstube der Demokratie mit entwickelt hat.

Danach wurde auch die „Lotte Lemke“ zertifiziert. Entsprechende Haltung und Kompetenzen entwickelten sich bereits in der frühen Kindheit, so Hansen. Wie andere Bildungsinhalte könnten sie nicht vermittelt, sondern nur handelnd erworben werden. „Kinder eignen sich Demokratie durch Partizipation an.“ Werde Partizipation verstanden als Beteiligung an Entscheidungen, dann „wird sie zentraler Bestandteil einer subjektorientierten und demokratie-orientierten Pädagogik“.

„Wir wollen Selbstbestimmung ermöglichen. Nur wer von klein auf beteiligt und einbezogen wird, will das auch selber leben und herstellen.“ (Doris Noack)

„Demokratiepädagogik heißt nicht, dass die Kinder jemanden zur Erzieherin wählen“, stellt Pädagogik-Professor Schneider klar. Es bedeute vielmehr, dass auch die Kleinsten in ihren Bedürfnissen geachtet und als eigenes Ich respektiert werden, damit sie sich gehört und ernst genommen fühlen. Als wesentliche Voraussetzungen dafür nennt Susanne Göcke, Erzieherin aus Saerbeck im Münsterland, eine demokratische Einstellung sowie eine wertschätzende und freundliche Haltung der pädagogischen Fachkräfte. Entscheidend sei, die Kinder stets auf Augenhöhe zu betrachten. Sie beschreibt ihre Rolle als „unterstützende Begleiterin der Kinder in ihren Entwicklungen“ und nennt dieses Miteinander eine „Entdeckungsreise“, die weder ergebnisorientiert noch zielgerichtet sei. Hagemann-Akay von der Kita „Lotte Lemke“ streicht die Bedeutung des Beschwerdemanagements heraus. Wesentlich sei, Kindern gut zuzuhören und ihre Wünsche, Bedürfnisse und Beschwerden herauszufiltern. „Ich unterstütze sie, einen Weg zu finden, ihre Gefühle und Bedürfnisse zu äußern.“

In der Hamburger Kita „die Schatztruhe“ bieten die pädagogischen Fachkräfte „Beteiligung im Alltag“ von Beginn an. „Die Kinder entscheiden, wer sie wickelt“, berichtet Leiterin Doris Noack. „Schon die Jüngsten ziehen sich so weit wie möglich selbst an und essen selbstständig.“ Es sind die Kinder, die entscheiden, ob sie Hilfe brauchen oder gerade nicht. Mit zunehmendem Erfahrungshorizont steigen ihre Entscheidungsfähigkeiten und Beteiligungsmöglichkeiten, so die Kita-Leiterin. Dementsprechend häufiger binden die pädagogischen Fachkräfte sie in Abläufe und Entscheidungen in der Gruppe ein. „Je älter die Kinder sind, desto mehr Einfluss haben sie auf ihren Alltag bis hin zur Wahl von Ausflugszielen, Liedern und zur Veränderung von Ritualen.“

Für Noack ist die frühe Erfahrung, auf das eigene Leben Einfluss nehmen zu können, bedeutsam für die weitere Entwicklung. „Wir wollen Selbstbestimmung ermöglichen“, sagt sie. „Nur wer von klein auf beteiligt und einbezogen wird, will das auch selber leben und herstellen.“ So definiert sie Beteiligung als einen aktiven und offenen Prozess. „Wir begleiten jedes Kind in seiner individuellen Entwicklung.“ Jedes einzelne solle befähigt werden, seine Stimme zu erheben. „Dazu gehört auch, sich untereinander auszutauschen und zu verbünden“, so Noack.

In der Kita „Lotte Lemke“ sind alle Beteiligungsmöglichkeiten als Rechte formuliert – in der Kita-Verfassung für die Erwachsenen und auf bunten Plakatwänden im Foyer für die Kinder. „Wir besprechen und visualisieren sie jedes Jahr aufs Neue“, erläutert Sanow. Auf Fotos sehen die Kinder, dass sie mitentscheiden dürfen, was in der Küche zubereitet wird. Selbst bei der Personaleinstellung haben die Kinder der betroffenen Gruppe ein Mitspracherecht. So kam es bereits vor, dass die Einstellung einer neuen Kollegin abgelehnt wurde. Selbst entscheiden dürfen sie, wo und wann sie schlafen oder welche Spiele beim Kita-Fest angeboten werden. Das bedeute keinesfalls, „dass wir die Verantwortung abgeben und sie sich selbst überlassen“, stellt Sanow klar. Im Gegenteil, die Kinder würden eng begleitet.

Entscheidungen und Abstimmungen zur Raumgestaltung oder Planung des Kita-Festes bereiten die Fachkräfte durch Meinungsbildungsprozesse vor. „Wir visualisieren die zur Wahl stehenden Möglichkeiten durch Zeichnungen oder Fotos“, berichtet ihre Kollegin Hagemann-Akay. Ähnlich bei der Kleidungsfrage: Das Kind darf sich – im Sommer wie Winter – zunächst ausprobieren und dann „schauen wir im Dialog, was gerade passt“. Vorausgesetzt, dass das Kind gesund und altersgemäß entwickelt ist. „Wenn eine Mandeloperation bevorsteht, entscheiden die Erzieher nach vorheriger Absprache mit den Eltern“, so die Pädagogin. Beim Thema Mittagsschlaf haben die Eltern übrigens kein Mitspracherecht, „was anfangs häufiger zu Diskussionen führt“.

„Es war unglaublich, welche Kreativität zutage trat, als die Kolleginnen ihre eigenen Vorstellungen zurückhielten und in diesem Sinne ein Stück ihrer Macht abgaben.“ (Peggy Fischer)

Zunehmend mehr Kindertagesstätten verankern Partizipation und Demokratiebildung als Qualitätsstandards in ihren Konzepten. Auch viele große Träger machen sich auf den Weg. Die Vereinigung Hamburger Kindertagesstätten „Elbkinder“ definiert Partizipation als zentrales „Unternehmensziel“. Um den Begriff mit Leben zu füllen, müssen alle Fachkräfte eine Haltung entwickeln, „die es ihnen ermöglicht, sowohl bei längeren Planungen als auch in kurzen alltäglichen Entscheidungsmomenten automatisch respektvoll und partizipativ zu handeln“, beschreibt Pädagogik-Professorin Raingard Knauer vom IPB allgemein die Voraussetzungen für solch einen Prozess. In den über 180 Elbkinder-Einrichtungen sei Partizipation sehr unterschiedlich verankert – von ersten Schritten in Richtung Beteiligung bis hin zur Arbeit mit den Instrumenten Kita-Verfassung, Kinderrat oder Beschwerdestellen, berichtet Julia Overmann, pädagogische Fachberaterin bei dem öffentlichen Kita-Träger.

Um den Prozess voranzutreiben, seien alle Einrichtungen verpflichtet, sich an kitainternen Studientagen mit dem Thema auseinanderzusetzen. „Aus der gemeinsamen Reflexion der eigenen Haltungen und Einstellungen ergeben sich Ideen für unterschiedlichste Beteiligungsprojekte oder strukturelle Veränderungen im Kita-Alltag“, erklärt die ausgebildete IPB-Moderatorin. So hat ein Team der Kita „Rabenhorst“ beispielsweise das Aufräumen als Partizipationsprojekt gestaltet: Fachkräfte und Kinder haben im Morgenkreis gemeinsam geschaut und per Abstimmung entschieden, auf welche Möbel und Spiele sie verzichten können. Am Nachmittag war der Gruppenraum zu aller Überraschung komplett leergeräumt. In den folgenden drei Wochen füllten die Kinder den Raum mit eigenen Spiel- und Materialideen. Erst dann beschlossen sie mehrheitlich, die Gruppe wieder einzurichten – vollkommen anders als zuvor.

„Es war unglaublich, welche Kreativität zutage trat, als die Kolleginnen ihre eigenen Vorstellungen zurückhielten und in diesem Sinne ein Stück ihrer Macht abgaben“, so die stellvertretende Kita-Leiterin Peggy Fischer. Gleichzeitig waren sie verunsichert angesichts ihrer neuen Rolle. „Sie mussten völlig unvorbereitet mit den Konsequenzen umgehen – was würden die Kinder sich noch ausdenken, was sagen die Eltern zu dem leeren Raum?“ Die Reaktionen der Eltern jedoch waren durchweg positiv. Die Erzieherinnen haben die Kinder beim Hinaustragen der Möbel und Spielsachen fotografiert und die Fotos zeitnah im Flur aufgehängt. „Es war deutlich zu sehen, wie viel Spaß es ihnen gebracht hat“, erzählt Fischer.

Eltern ins Boot holen

Partizipation sei nur erfolgreich, wenn die Eltern gut mitgenommen würden, bestätigt Sabine Redecker, die bis 2018 als Fachreferentin bei der Arbeiterwohlfahrt (AWO) in Schleswig-Holstein für die Umsetzung des Modellprojekts AWO-Kitas auf dem Weg zur Partizipationskita zuständig war. Wichtig sei, „Eltern von Beginn an ins Boot zu holen, indem sie auf Elternabenden oder per Infobrief über geplante Beteiligungsprojekte informiert werden“.

Bevor ihre Tochter einen Platz in der Kita „Lotte Lemke“ bekam, hatte Anna von Stosch gehört, dass die Kinder dort tun und lassen dürften, was sie wollen. Doch als sie erlebte, wie die Kinder beteiligt und begleitet werden, „war ich beeindruckt“. Ihre Tochter ist mittlerweile „Weitersagerin“ und pocht auch zu Hause auf ihre Rechte und demokratische Abstimmungen. Von Stosch blickt entspannt auf die nahende Einschulung, denn von anderen Eltern hat sie erfahren, dass die Lotte-Lemke-Kinder in ihrer Grundschule gern gesehen sind, „weil sie hinterfragen und sich einbringen“.

*Alle Namen der Kinder geändert