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Sozialstaat

Wer arbeitet, hat immer mehr

In der Diskussion um Mindestlohn und Bürgergeld werden Äpfel mit Birnen verglichen: aus Unwissenheit, aus Fahrlässigkeit, aber am häufigsten aus der durchsichtigen Absicht, den Sozialstaat an sich anzugreifen.

Äpfel mit Birnen vergleichen: Bei der Gegenüberstellung der beiden Größen Grundsicherungsbedarf und (Netto-)Lohn werden wesentliche Transferleistungen nicht berücksichtigt. (Foto: Pixabay / CC0)

Als Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer (parteilos) im Spätherbst 2023, dem ersten Jahr der Bürgergeldreform, auf der Suche nach dem Bedarf seiner vierköpfigen Familie nach dem Sozialgesetzbuch, Zweites Buch (SGB II) war, warf ihm ein Online-Rechner den Betrag von monatlich 3.368 Euro aus. Palmers damaliges Fazit: „Wenn ich Alleinverdiener wäre, müsste ich schon um die 4.500 brutto heimbringen, um dasselbe zu erreichen. (…) Wenn es sich kaum noch lohnt, Jobs im unteren bis mittleren Teil des Lohnsegments anzunehmen (4.500 Euro brutto entspricht ja bereits einem Stundenlohn von fast 25 Euro, also weit über Mindestlohn), dann ist ein Bürgergeld in dieser Höhe unsozial gegenüber denen, die mit eigener Arbeit ihr Leben finanzieren und kaum einen Vorteil gegenüber denen haben, die sich voll von der Gemeinschaft finanzieren lassen.“ So zitierte ihn die „Bild“.

Die Crux an dieser Rechnung: Im Ergebnis werden Äpfel mit Birnen verglichen – aus Unwissenheit, Fahrlässigkeit oder (wohl am häufigsten) mit durchsichtiger Absicht. 

Die Crux an dieser Rechnung: Im Ergebnis werden Äpfel mit Birnen verglichen – aus Unwissenheit, Fahrlässigkeit oder (wohl am häufigsten) mit durchsichtiger Absicht. Bei der unsinnigen Gegenüberstellung der beiden Größen Grundsicherungsbedarf auf der einen und (Netto-)Lohn auf der anderen Seite werden wesentliche Transferleistungen nicht berücksichtigt; sowohl die Zahlbetragshöhe des Bürgergeldes wie auch die zur Bedarfsdeckung erforderliche Lohnhöhe werden dadurch häufig überzeichnet. 

Zudem fällt die SGB-II-immanente „Lohnabstandsgarantie“ in aller Regel unter den Tisch. Schließlich spielt auch der Umstand, dass es sich bei der Grundsicherung für Arbeitsuchende um eine subsidiäre Sozialleistung handelt, die unter anderem zunächst die Verwertung der eigenen Arbeitskraft – mit eventuellen Sanktionen bei unbegründeter Weigerung – verlangt, in den meisten Debattenbeiträgen keine Rolle. So wird am Ende der (falsche) Eindruck eines individuellen Wahlrechts zwischen „leistungslosem“ Bürgergeld und mühsamer Lohnarbeit weiter zementiert.

Alle Einkommensarten berücksichtigen

Ein seriöser Vergleich muss sämtliche für den Einzelfall relevanten Einkommensarten – einschließlich eventueller Transferleistungsansprüche – berücksichtigen (siehe Tabelle 1). Bei erwerbstätigen Bezieherinnen und Beziehern von Bürgergeld (sogenannten Aufstockern) sind aktuell die ersten 100 Euro des Lohns von der Einkommensanrechnung ausgenommen; darüber hinausgehendes Erwerbseinkommen ist bis zur Höhe von 520 Euro zu 20 Prozent, darüber hinaus und bis 1.000 Euro zu 30 Prozent anrechnungsfrei. 

Weiteres Bruttoentgelt bis 1.200/1.500 Euro (ohne/mit Kind) ist zu 10 Prozent von der Anrechnung ausgenommen. Erwerbseinkommensteile, die den oberen Grenzbetrag übersteigen, mindern den Bürgergeldanspruch dagegen in vollem Umfang. Auf Basis dieser Regelung (Paragraf 11b SGB II) führt Erwerbstätigkeit immer zu einem höheren Einkommen als Nichterwerbstätigkeit; im Maximum beträgt der Freibetrag seit Mitte 2023.

  • 348 Euro für Bedarfsgemeinschaften ohne Kind und einem Bruttolohn von 1.200 Euro oder mehr beziehungsweise
  • 378 Euro für Bedarfsgemeinschaften mit Kind und einem Bruttolohn von 1.500 Euro oder mehr.

Bei Vollzeitbeschäftigung werden diese Beträge derzeit immer erreicht – in aller Regel liegt der erzielbare Abstand zum Bürgergeld aber deutlich höher.

Der Abstand zwischen Mindestlohn und Bürgergeld ist in den vergangenen Jahren gestiegen.

Legt man die von der Bundesagentur für Arbeit nach Bedarfsgemeinschaftstypen differenziert ausgewiesenen durchschnittlich anerkannten laufenden Kosten für Kaltmiete und Heizung zugrunde, so lässt sich folgende typisierende Rechnung aufmachen (hier für Singles beziehungsweise Alleinerziehende mit zwei 14-jährigen Kindern (siehe Tabelle 2).

Der gängigen Erzählung zufolge „lohnt“ sich Arbeit wegen eines vermeintlich zu hohen Bürgergeldanspruchs kaum noch. Korrekte Vergleichsrechnungen zeigen das genaue Gegenteil.

  • Zwar stiegen die Regelbedarfe von 2021 bis 2025 um rund 26 Prozent – der gesetzliche Mindestlohn erhöhte sich jedoch um knapp 35 Prozent.
  • Bei Vollzeitbeschäftigung (38-Stunden-Woche) zum Mindestlohn ist der Abstand zu einem vergleichbaren Nichterwerbstätigen-Haushalt um 60 Prozent (Singles) beziehungsweise 72 Prozent (Alleinerziehende mit zwei 14-jährigen Kindern) gestiegen.
  • Auch die Bruttolohnschwelle, die den Übergang von der SGB-II-Hilfebedürftigkeit zur Nicht-Hilfebedürftigkeit markiert, ist gesunken. Um die Bürgergeldberechtigung zu verlassen, muss der Single-Haushalt mit 25,3 Wochenstunden heute knapp ein Drittel weniger Arbeitszeit aufwenden als noch 2021 – beim Alleinerziehenden-Haushalt sind es mit 10,8 Wochenstunden sogar fast zwei Drittel weniger.

Zu dieser Entwicklung maßgeblich beigetragen haben neben der Erhöhung des Mindestlohns die Wohngeld-
Plus-Reform von 2023 und die mit ihr eingeführte regelmäßige Dynamisierung der Leistungssätze (erstmals 2025) sowie die Erhöhung des Unterhaltsvorschusses.

Zudem werden mit einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung Rentenpunkte erworben. Wer Bürgergeld bezieht, erwirbt während dieser Zeit dagegen keine Rentenpunkte, die aber für die Berechnung der Höhe der Rente wichtig sind. Dass es sich infolge eines im Vergleich zu den Löhnen zu stark gestiegenen Bürgergeldes kaum noch lohne, zu arbeiten, gehört folglich ebenso zu den faktenfreien Mythen der sozial- und arbeitsmarktpolitischen Debatte wie der öffentlich permanent erweckte Eindruck eines über die vergangenen Jahre gesunkenen und damit nicht mehr ausreichenden Abstands. 

Der Autor betreibt das Portal „Sozialpolitik“ und schreibt für den Blog „Mythen der Sozialpolitik“ des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung.

Tabelle 1

Tabelle 2