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Neue Abiturregeln

Weichen falsch gestellt

Mit ihren neuen Abiturregeln hat die Kultusministerkonferenz (KMK) die Chance vertan, junge Menschen besser auf Studium und Beruf vorzubereiten. Doch die in der „Potsdamer Erklärung“ vereinten Reformkräfte – unter ihnen die GEW – geben nicht auf.

Mit den neuen Regeln für das Abitur haben die Kultusministerien der Länder keinen wirklich großen Wurf gelandet. (Foto: IMAGO/Fotostand)

Die Kernbotschaft der KMK: Schwerpunktbildung und Kurswahlsystem in der gymnasialen Oberstufe werden weiter eingeschränkt zugunsten starrer bundeseinheitlicher Vorgaben bei der Belegung von Kursen und der Abschlussprüfung. Dafür wird die Zahl der Leistungskurse auf erhöhtem Niveau von bisher zwei bis vier auf zwei bis drei reduziert, zugleich die Zahl der verpflichtend zu belegenden Halbjahreskurse in den letzten beiden Schuljahren auf 40 erhöht – von diesen fließen 36 in die Bewertung der Gesamtnote ein. „Geringfügige Abweichungen hiervon sind nur unter ganz bestimmten Bedingungen zulässig“, heißt es dazu in der Erklärung der KMK. Derzeit können 32 bis 40 Kurse für die Abinote angerechnet werden.

Zudem gibt es bundeseinheitliche Vorgaben für die Stundenbelegung sowie die Gewichtung der Klausuren und auch für die Abiturprüfung. Zum aktuellen Mega-Thema Digitalisierung steht im Kapitel „Zielsetzung“ dagegen lediglich der lapidare Satz: „Weitere Aufgabe des Unterrichts in allen Fächern ist die Vermittlung derjenigen Kompetenzen, die erforderlich sind, um aktiv, reflektiert und mündig an einer von Digitalisierung geprägten Gesellschaft teilhaben zu können.“

Schlagwort „Billigabitur“

Die Vorgeschichte: Im Dezember 2017 erklärte das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) das damalige Zulassungssystem zum Medizinstudium für verfassungswidrig. Auslöser waren die überlangen Wartezeiten der Studienbewerberinnen und -bewerber ohne einen Super-Notenschnitt im Abitur. Zugleich forderte das Gericht die Länder auf, das Abitur bundesweit vergleichbarer zu machen, um mehr Chancengleichheit unter den Studienbewerbern zu garantieren. Gleichwohl: Harte empirische Belege dafür, dass Abiturientinnen und Abiturienten aus Bundesländern wie Bremen mit angeblich weniger rigiden Abiturregeln im Studium häufiger scheitern als etwa aus Bayern, gibt es nicht.

Auch haben es die Kultusministerinnen und -minister bisher strikt abgelehnt, Schülerinnen und Schüler in der gymnasialen Oberstufe mit ähnlichen bundesweiten Leistungsvergleichen zu überziehen, wie sie in den Grundschulen und in der Sekundarstufe I seit Jahren gang und gäbe sind. Dennoch bemüht die konservative Seite immer wieder das Schlagwort des „Billigabiturs“.

Die Folge des BVerfG-Urteils: In einem ersten Schritt verständigten sich die Länder im Jahr 2019 auf einen neuen Staatsvertrag zur Studienplatzvergabe in Medizin. Dann erst begannen im KMK-Schulausschuss die mühsamen Verhandlungen der Ländervertreter über eine neue „Vereinbarung zur Gestaltung der gymnasialen Oberstufe und der Abiturprüfung“. Schulpraktikerinnen und -praktiker, Expertinnen und Experten sowie Lehrerorganisationen wurden nicht beteiligt. Die neuen Vorgaben sollen spätestens ab 2027 für alle Schülerinnen und Schüler gelten, die dann in die Einführungsphase der gymnasialen Oberstufe kommen. Das erste Abitur auf Basis der Neuregelungen wird in den Ländern spätestens 2030 abgenommen. 

„Potsdamer Erklärung“

Jeweils rund 400.000 Schülerinnen und Schüler haben in den vergangenen zwei Jahren die Allgemeine Hochschulreife oder die Fachhochschulreife erworben. Die Bildungsforschung geht davon aus, dass rund 80 Prozent von ihnen ein Studium aufnehmen werden – zum Teil um Jahre versetzt. Obwohl in der Vergangenheit der Zugang zu den Hochschulen für beruflich Qualifizierte ohne klassisches Abitur deutlich geöffnet wurde, qualifizieren sich 96 Prozent der Studienanfängerinnen und -anfänger nach wie vor über schulische Bildungsgänge.

Ein breites Bündnis aus Schulpraktikern, Bildungsinitiativen und GEW macht Front gegen die starren und weiter einengenden neuen Vorgaben der KMK für die gymnasiale Oberstufe. Angesichts des digitalen Wandels, der veränderten Anforderungen der Arbeitswelt und der zunehmenden Heterogenität der Schülerschaft müssten die Gestaltungsspielräume der Schulen und die vielfältigen Reformansätze nicht eingeschränkt, sondern ausgeweitet werden, heißt es in der „Potsdamer Erklärung“ des Bündnisses.

„Die KMK hat die Chance vertan, das Abitur zukunftsfähig zu machen. Statt auf mehr Flexibilität auf dem Weg zum Abi zu setzen, werden die (fast) erwachsenen Schülerinnen und Schüler mehr gegängelt.“ (Maike Finnern)

Alle Jugendlichen müssten lernen, im Team zu arbeiten und ihr Lernen selbstständig zu verantworten. Kreatives und vernetztes Denken ebenso wie komplexe Problemlösungsfähigkeiten gehörten heute zu den notwendigen und geforderten Kompetenzen. „Viele Grundschulen und Schulen in der Sekundarstufe I veränderten seit Jahren ihre pädagogische Arbeit in diesem Sinne“, heißt es in der Erklärung weiter. Doch in der gymnasialen Oberstufe verhinderten einengende formale Regelungen pädagogische und curricular angemessene Antworten auf die veränderten gesellschaftlichen Anforderungen und die zunehmende Diversität. Bündnis-Sprecher Friedemann Stöffler kündigte an, man werde trotz des KMK-Beschlusses „selbstverständlich weitermachen“. Das Bündnis werde in Diskussionen und Konferenzen neue Konzepte und Ideen entwickeln und in den Ländern massiv auf weitere Schulversuche drängen.

Die GEW-Vorsitzende Maike Finnern warf den Kultusministern eine „falsche Weichenstellung“ vor: „Die KMK hat die Chance vertan, das Abitur zukunftsfähig zu machen. Statt auf mehr Flexibilität auf dem Weg zum Abi zu setzen, werden die (fast) erwachsenen Schülerinnen und Schüler mehr gegängelt.“ Die jungen Menschen müssten die Möglichkeit bekommen, in der Oberstufe stärker eigene Schwerpunkte mit Blick auf ihre spätere Studien- oder Berufswahl zu setzen. Finnern verwies darauf, dass die GEW und das „Bündnis für ein zukunftsfähiges Abitur“ in der „Potsdamer Erklärung“ vorschlagen, mehr individuellere Wege zum Abitur als bisher zu entwickeln. „Die KMK hat in ihrem Beschluss nicht einmal eine Innovationsklausel vorgesehen, die strukturell Raum für Schulen geschaffen hätte, andere Ideen zur Gestaltung der Schule der Zukunft zuzulassen“, stellte die GEW-Vorsitzende fest.