Serie: Traumjob oder Trauma?
Was macht den Lehrkräfteberuf für junge Menschen attraktiv?
Ein Blick ins Ausland zeigt, was den Lehrberuf in Deutschland attraktiv machen würde und gegen den Fachkräftemangel im Klassenzimmer getan werden muss.
Der soziale Status der Lehrkräfte ist eine aussagekräftige Größe mit Blick auf die Attraktivität des Berufs. In Singapur, Korea oder Finnland haben etwa zwei Drittel der Lehrerinnen und Lehrer das Gefühl, dass ihre Arbeit von der Gesellschaft wertgeschätzt wird. In Frankreich oder der Slowakischen Republik ist es nur einer von 20. Deutschland hat bei dieser Datenerhebung nicht mitgemacht.
Was einen Beruf attraktiv macht, ist immer eine Kombination aus dem sozialen Status des Berufs, dem Beitrag zur Gesellschaft, den Menschen in diesem Beruf leisten können, und dem Ausmaß, in dem die Arbeit finanziell und intellektuell lohnend ist. Die Länder, denen dies gelingt, zeichnen sich durch drei Faktoren aus.
Lehrkräfte öffentlich sichtbar machen
Erstens haben sie Systeme, Strukturen und Unterstützungsmaßnahmen eingeführt, die die Lehrkräfte in der Öffentlichkeit sichtbar machen. Das Grundprinzip ist, dass jede Interaktion der Lehrkräfte mit ihrer Umgebung Sozialkapital aufbaut und festigt. Leistungsstarke Bildungssysteme organisieren die Arbeit der Lehrerinnen und Lehrer so, dass diese Zeit und Möglichkeiten haben, um ihre Schülerinnen und Schüler sowie deren Familien gut kennenzulernen und eine aktive Rolle in der Gesellschaft zu spielen. Das Engagement der Lehrkräfte ist dabei stärken- und nicht defizitorientiert. Die Politik unterstützt sie, in ihrer Umgebung etwas zu bewegen.
Zum Zweiten ist entscheidend, wie gut Lehrerinnen und Lehrer in Teams eingebunden sind und an der Entwicklung der Unterrichtskonzepte und des Schulsystems insgesamt beteiligt werden. Wichtig ist auch, dass die berufliche Entwicklung kontinuierlich ist, Praxis und Feedback beinhaltet sowie ausreichend Zeit für die Nachbereitung bietet.
Drittens stärken Führungspersönlichkeiten ihre Lehrkräfte, indem sie ihnen Vertrauen entgegenbringen und so positive Wechselwirkungen zwischen Produktivität und innovativen Lernumgebungen schaffen. Ein hohes Maß an politischer Kohärenz, das heißt die Tatsache, dass Entscheidungen über Wahlzyklen und politische Verwaltungen hinweg konsequent umgesetzt werden, führt dazu, dass Lehrkräfte ihren Führungskräften im Bildungswesen vertrauen: Sie vertrauen auf deren Integrität und verlassen sich darauf, dass sie tun, was sie sagen.
Steigende Erwartungen
Dass es schwieriger wird, Menschen für den Lehrkräfteberuf zu gewinnen, hat sicher auch mit den steigenden Erwartungen an Lehrerinnen und Lehrer zu tun. Diese müssen heute können, was Schüler morgen wissen müssen. Wir erwarten von ihnen Expertise darüber, wie sie Kinder und Jugendliche für die Zukunft vorbereiten, wen sie unterrichten und wie Schülerinnen und Schüler lernen. Wir erwarten von ihnen, leidenschaftlich und mitfühlend zu sein; Schülerinnen und Schüler mit unterschiedlichen Bedürfnissen, Hintergründen und Sprachen, als Coach und Mentor individuell zu begleiten und Toleranz und sozialen Zusammenhalt zu fördern.
Und nicht zuletzt werden Schülerinnen und Schüler nur dann zum lebenslangen Lernen motiviert, wenn sie ihre Lehrkräfte als aktive, lebenslang lernende Menschen wahrnehmen, die dazu bereit sind, ihren eigenen Horizont zu erweitern und das etablierte Wissen ihrer Zeit infrage zu stellen.
Wir erwarten aber noch mehr, als in den Stellenbeschreibungen steht. Die meisten erfolgreichen Menschen hatten in ihrer Schulzeit wenigstens eine Lehrkraft, die ihr Leben entscheidend beeinflusst hat – weil diese ein Vorbild war, sich für ihr Wohlergehen und ihre Zukunft interessierte und emotionale Unterstützung bot, wenn sie sie brauchten. Eine Arbeitsorganisation und Unterstützungskultur zu schaffen, in denen diese Eigenschaften gedeihen, trägt wesentlich dazu bei, dass alle Schülerinnen und Schüler erfolgreich sind und der Lehrkräfteberuf attraktiv ist.
Fragt man Lehrerinnen und Lehrer, die mit ihrem Beruf zufrieden sind, was ihnen am wichtigsten ist und womit sie viel Zeit verbringen, dann sind die häufigsten Antworten: die Qualität der Beziehungsarbeit, das Arbeiten im Team einschließlich Unterrichtshospitationen, Mentoring und gemeinsamer professioneller Weiterentwicklung sowie Gestaltungsfreiraum und Eigenverantwortung.
Vielerorts hört man, dass unterrichtsferne Aufgaben wegen der Überlastung der Lehrerinnen und Lehrer auf andere Dienstleister ausgelagert werden sollten, damit sich die Lehrerinnen und Lehrer ganz auf den Unterricht konzentrieren können. Das scheint zunächst effizient, aber in Finnland verbringen Lehrkräfte ein Drittel ihrer Zeit mit Schülerinnen und Schülern außerhalb des Klassenverbandes, oft kümmern sie sich dort um soziale Belange. In Japan reinigen die Schülerinnen und Schüler gemeinsam mit ihren Lehrkräften am Ende des Schultages sogar noch das Schulgebäude, denn es ist ihr gemeinsames Haus, für das sie gemeinsam verantwortlich sind. Sie arbeiten außerdem über ihren Unterricht hinaus in Teams und gemeinsam mit anderen Schulen an der Entwicklung und Umsetzung innovativer Lernformate.
In all dem liegt ein wesentlicher Schlüssel zur Attraktivität des Lehrkräfteberufs. Fragt man Lehrerinnen und Lehrer, die mit ihrem Beruf zufrieden sind, was ihnen am wichtigsten ist und womit sie viel Zeit verbringen, dann sind die häufigsten Antworten: die Qualität der Beziehungsarbeit, das Arbeiten im Team einschließlich Unterrichtshospitationen, Mentoring und gemeinsamer professioneller Weiterentwicklung sowie Gestaltungsfreiraum und Eigenverantwortung.
In den Niederlanden werden 90 Prozent aller Entscheidungen vor Ort, in den Schulen und Klassenzimmern getroffen; in Deutschland sind es gerade einmal 17 Prozent. Vor einigen Jahren haben wir untersucht, wie das niederländische Bildungsministerium Fachstandards entwickelte, die von den Lehrkräften selbst ausgingen. Anfangs wurde die Sorge geäußert, dass die Berufsstandards auf der Basis des kleinsten gemeinsamen Nenners festgelegt würden, wenn diese Aufgabe den Lehrerinnen und Lehrern überlassen werde. Das Gegenteil war jedoch der Fall. Wahrscheinlich wäre keine Regierung der Niederlande jemals in der Lage gewesen, so anspruchsvolle Standards für den Beruf festzulegen, wie die Lehrkräfte selbst. Letztendlich haben Lehrkräfte, ebenso wie andere Fachkräfte, ein Interesse daran, die Standards und das Ansehen ihres Berufs zu sichern.
Lehrkräfte mehr beteiligen
Die Umsetzung eines staatlich festgelegten Lehrplans in die Unterrichtspraxis zieht sich in der Regel über zehn Jahre hin, weil es so lange dauert, die Ziele und Methoden über die verschiedenen Ebenen des Bildungssystems hinweg zu vermitteln und in die Lehrkräfteausbildung zu integrieren. Wenn Lerninhalte und -methoden sich aber schnell ändern, vergrößert dieser langsame Umsetzungsprozess die Kluft zwischen dem, was die Schülerinnen und Schüler lernen sollten, und den Unterrichtsinhalten und -methoden der Lehrerinnen und Lehrer.
Die einzige Möglichkeit, diesen zeitlichen Rahmen zu verkürzen, besteht darin, die Lehrkräftetätigkeit so zu unterstützen, dass die Lehrkräfte den Lehrplan nicht nur als Endprodukt bekommen, sondern auch an dessen Entwicklung entscheidend beteiligt sind. Genau dies fehlt in Deutschland. Außerdem werden die Lehrinhalte immer weniger den Kern und immer mehr den Kontext eines guten Unterrichts ausmachen.
Paradoxerweise werden Lehrkräfte durch eine industrielle Arbeitsorganisation häufig auf sich allein gestellt. Null Prozent Schulautonomie bedeutet für die Lehrkräfte 100 Prozent Isolation hinter geschlossenen Klassenzimmertüren. Die Position der Lehrkräfte kann in dem Maße gestärkt werden, wie der präskriptive Ansatz zurückgeht. Zunehmende berufliche Autonomie bedeutet jedoch auch, dass idiosynkratische Praktiken hinterfragt werden. Es geht ja nicht darum, dass Lehrerinnen und Lehrer ihre eigene Herangehensweise entwickeln, sondern dass sie von ihnen gemeinsam entwickelte Praktiken anwenden, was Unterrichten nicht nur zu einer Kunst, sondern auch zu einer Wissenschaft macht.
Wenn Lehrkräfte mehr berufliche Ermessensfreiheit erhalten, entwickeln sie den notwendigen Handlungsspielraum, um bei Schülerinnen und Schülern Kreativität und kritische Denkfähigkeiten zu fördern.
Herauszufinden, welche pädagogischen Ansätze in welchen Umgebungen am besten funktionieren, erfordert Zeit, aber auch Investitionen in die Forschung und Arbeitskultur in den Schulen. Um das zu erreichen, muss die industrielle Arbeitsorganisation in eine wirklich professionelle Arbeitsorganisation umgewandelt werden, in der bürokratische und administrative Organisations- und Kontrollformen durch professionelle Transparenz und Arbeit im Team ersetzt werden. Wenn Lehrkräfte mehr berufliche Ermessensfreiheit erhalten, entwickeln sie den notwendigen Handlungsspielraum, um bei Schülerinnen und Schülern Kreativität und kritische Denkfähigkeiten zu fördern, die im 21. Jahrhundert für den Erfolg von entscheidender Bedeutung sind und die in stark von Vorschriften geprägten Lernumgebungen viel schwerer entstehen.