Zum Inhalt springen

Was ist los in „Almanya“?

Das Abdriften junger Menschen in die islamistische Radikalität hat nach Einschätzung des deutschen Autors Imran Ayata auch mit unseren gesellschaftlichen Defiziten zu tun. Integration erreiche viele Jugendliche aus Migrantenfamilien nicht.

In den ersten Wochen dieses Jahres konnte man den Eindruck gewinnen, Deutschland gerate aus den Fugen. Das Drama Millionen Geflüchteter, die vor Kriegen oder elenden sozialen Verhältnissen in Deutschland und Europa Zuflucht suchen, die Bedrohung durch islamistischen Terror (IS), die sexistischen Übergriffe auf Frauen am Kölner Hauptbahnhof in der Silvesternacht, das Etablieren rassistischer Bewegungen wie Pegida oder AfD („Alternative für Deutschland“) werfen die Frage auf, was los ist in „Almanya“?

Mal wieder werden Bedrohungsszenarien ausgeleuchtet und Werte beschworen, ohne diese konkret auf den Punkt zu bringen. Vielleicht, weil die mit der Ökonomisierung unseres Lebens längst ins Hintertreffen geraten sind. Deutschland muss sich in Zeiten der Globalisierung neu erfinden. Muss endlich Abschied davon nehmen, soziale Fragen zu ethnisieren und Flucht, Migration sowie Einwanderung als Probleme zu begreifen. Deutschland gehört zu den Profiteuren der Globalisierung, ist längst weltweit zu einer politischen Macht avanciert. Schon allein deswegen kann man nicht so tun, als hätten internationale Konflikte nichts mit uns zu tun. In- und Ausland, drinnen und draußen, „wir“ und „sie“ – das sind Denkmuster, die unsere globalisierte Welt bereits überholt hat. Deshalb: Wir müssen akzeptieren, dass Menschen mit Migrationsgeschichte zur DNA dieses Landes gehören.

Integration erreicht viele Jugendliche aus Migrantenfamilien in ihrer Lebenswirklichkeit nicht

Wenn es um Themen geht, die mit Migranten zu tun haben, wird aber noch immer grobschlächtig  pauschalisiert, werden ununterbrochen rassistische Klischees bemüht und Blödsinn geredet. Zu tradierten Reflexen gehört es, dass Politik und Medien zackig nach härteren Gesetzen rufen und ihren Tagtraum der Abschiebungen leben – so auch nach den Kölner Übergriffen. Wozu das führen soll, wissen vermutlich nicht einmal die Apologeten des „Wir-müssen-jetzt-durchgreifen“. Es hilft nicht, wir müssen uns auf allen gesellschaftlichen Ebenen viel stärker um neue Antworten bemühen, vor allem in den Bildungseinrichtungen.

Das verdient eine Chance, weil etwa die oft beschworene Integration viele Jugendliche aus Migrantenfamilien in ihrer Lebenswirklichkeit gar nicht (mehr) erreicht. Dass Salafisten, Dschihadisten und der sogenannte IS bei ihrer Rekrutierung in Deutschland und Europa darauf abzielen, junge Menschen damit zu locken, ihrem Alltag zu entkommen, ist kein Zufall, sondern Strategie. Warum scheint es den IS-Terrorgruppen in den vergangenen Jahren immer besser zu gelingen, vor allem junge Männer aus westlichen Demokratien für ihren reaktionären Wahnsinn, ihre Verbrechen und Morde zu gewinnen? Warum radikalisieren sich diese hier und entscheiden sich für den Märtyrertod in Syrien? Die Gründe dafür sind komplex und nicht hinreichend erforscht.

Kampf gegen einen sich radikalisierenden Islam ist ein politischer

Neben vielen Aspekten, die vor allem in dem sich radikalisierenden politischen Islam selbst begründet sind, hat das Abdriften in die islamistische Radikalität auch mit unseren gesellschaftlichen Defiziten zu tun. Dass die tödlichen Versprechen der Dschihadisten und des IS manch jungen Migranten faszinieren, hat auch mit der hier erlebten Ausgrenzung von Schule über Arbeitsmarkt bis hin zur Diskothek zu tun. Mit ein paar Klicks können sie im Internet ihre Wirklichkeit in Recklinghausen mit einer in Rakka tauschen. Doch der Radikalisierung junger Männer und Frauen entzieht man den Boden nicht alleine dadurch, dass man den IS mit militärischen Mitteln bekämpft.

Der Kampf gegen einen sich radikalisierenden Islam ist ein politischer, der auch bei uns geführt werden und der sich gleichzeitig gegen den Anti-Islamismus à la AfD stellen muss. Es muss darum gehen, Menschen, unabhängig von ihrer Herkunft und sozialen Lage, ein Angebot zu unterbreiten, sodass sie die Bedingungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens gleichberechtigt mitverhandeln können. Wie geht partizipative Demokratie in Zeiten der Globalisierung? Das ist die eigentliche Frage.

Dieser Kommentar von Imran Ayata ist in der Februarausgabe der Zeitschrift E&W erschienen.