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Krise der Demokratie

„Was hat das mit mir zu tun?“

Wie sehen Jugendliche unsere Demokratie? Die E&W hat die Berliner Fritz-Karsen-Schule (FKS) besucht, mit Schülerinnen und Schülern gesprochen und ein Stimmungsbild gezeichnet.

Der Profilkurs Politik an der Berliner Fritz-Karsen-Schule (FKS) steckt gerade mitten im Weltgeschehen. Thema: „Russland in der Ukraine.“ Paul und Firat haben heute, einen Tag vor dem Angriff der russischen Armee auf die Ukraine, einen Impuls-Vortrag vorbereitet. Die 15 Minuten „Aktuelle Stunde“ sind wie immer Auftakt der wöchentlichen Politik-Doppelstunde, kontroverse Diskussionen inklusive. Wie ist das Vorgehen Russlands zu beurteilen? Wie sieht die Lage aus der Sicht der Ukraine aus? Dutzende Hände schnellen in die Luft. Positionen auszutauschen, das haben die Elftklässler gelernt.

„Politiker gehen zu wenig auf die Bedürfnisse der Bevölkerung ein, einen höheren Mindestlohn etwa.“ (Firat)

Dann werden Tische und Stühle im Kreis zusammengeschoben, die Schülerinnen und Schüler sind neugierig auf die Fragen der Reporterin. Woran denkt ihr bei Demokratie? „An Parlament und Repräsentation“, „an Partizipation“, „Mitbestimmung“, „Gerechtigkeit“. Die Antworten kommen schnell, bemerkenswert positiv sind die ersten Assoziationen. Doch rasch wird klar: Trotz positiver Grundhaltung stört die Jugendlichen einiges am politischen System. „Politiker gehen zu wenig auf die Bedürfnisse der Bevölkerung ein, einen höheren Mindestlohn etwa“, kritisiert Firat. „Wahlversprechen werden oft nicht gehalten, Aufgaben aufgeschoben“, findet Matthias.

Wieso wird nicht endlich ein Tempolimit durchgesetzt? Wo bleibt das entschiedene Vorgehen gegen die Verbrechen des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU)? Wieso gibt es so viel Rumgeeiere in der Corona-Politik? Vor allem aber stört die Jugendlichen eines: „Wir werden zu wenig gehört“, meint Paul, „und nicht ernst genommen“, ärgert sich Luisa. Wenn die Schülervertretung (SV) Politikerinnen und Politiker einlädt, kommen diese selten oder bleiben nur kurz – auf Augenhöhe laufen die Gespräche dann selten. Ronja: „Klar, Politikprofis kennen sich mit den Themen meist besser aus, aber es ist doch wichtig, einander zuzuhören.“

„Politisches Interesse zu entwickeln, ist wie die Lust am Lesen zu lernen – wenn zu Hause Vorbilder fehlen, haben es Kinder viel schwerer.“ (Robert Giese)

Bevor der Politikkurs der Jahrgangsstufe 11 beginnt, bittet Schulleiter Robert Giese ins Lehrerzimmer. Demokratiebildung ist ihm wichtig. „Bei uns gibt es eine starke Gruppe politisch engagierter Jugendlicher, die zum Beispiel bei den Falken, der Sozialistischen Jugend Deutschlands, im Bezirk aktiv sind“, sagt Giese, „aber auch einige, die skeptisch auf unsere Demokratie schauen und sich aus jeder Beteiligung raushalten.“ Untersuchungen zeigten, so Giese, dass Kinder aus benachteiligten, ärmeren Familien eher politikferner sind. An seiner Gemeinschaftsschule spiegle sich das wider, gut 30 Prozent der Schülerschaft sind lernmittelbefreit.

„Politisches Interesse zu entwickeln, ist wie die Lust am Lesen zu lernen – wenn zu Hause Vorbilder fehlen, haben es Kinder viel schwerer“, so Giese. „Ich sehe uns als Schule in der Pflicht, sie an Politik heranzuführen und zu zeigen: Ihr könnt mitgestalten.“ An der Gemeinschaftsschule sind daher schon Kinder aus der 3. Klasse in der SV vertreten, der monatliche Klassenrat, seit September 2021 in Berlin Pflicht, findet an der FKS schon seit zehn Jahren wöchentlich statt. Giese: „Demokratiebewusstsein entsteht schließlich nur durch Tun: wenn Jugendliche ihre Selbstwirksamkeit erleben.“

Lebensnahe Mitbestimmung

Paul aus dem Profilkurs Politik schätzt die Mitwirkungsmöglichkeiten. „Die SV etwa wird hier super unterstützt, aber auf Bezirks- und Landesebene ist alles viel zu bürokratisch.“ Anträge stellen, in Sitzungen hocken, Ausschüsse besuchen. Das schreckt ab. Paul, selbst in SV und Landesschülerausschuss aktiv, setzt sich daher für mehr lebensnahe Angebote ein. Zum Beispiel eine Klima-AG für Neukölln, in der Jugendliche an einem konkreten Thema arbeiten können.

Janos Rimke, Lehrer des Profilkurses Politik, kennt den Wunsch nach lebensnaher Mitbestimmung. „Jugendliche nehmen Politik meist nicht als Teil ihres Lebens wahr, sondern als eine Art Gegenüber, weit weg und fremd.“ Diese Distanz zur Politik entspreche durchaus der Realität. Schließlich werde das politische System, egal ob es um die Funktionsweise der Europäischen Union (EU) geht oder den Bundestag, im Unterricht mit sachlicher Distanz betrachtet. „Die kritische, sachliche Analyse der politischen Struktur, Herrschaft und Macht ist wichtig – aber genauso zählt es, eine Verbindung zu den Jugendlichen herzustellen: Was hat das mit mir zu tun?“

„Distanz zum politischen System bedeutet eben nicht, unpolitisch zu sein.“ (Janos Rimke)

Rimke versucht daher, das politische Gespräch im Unterricht möglichst an den Interessen der Jugendlichen anzudocken, zum Beispiel mit Themen wie Gender und Unisextoiletten an der Schule. „Da wird politisches Handeln konkret und emotional“, sagt Rimke. „Dabei merke ich immer wieder: Distanz zum politischen System bedeutet eben nicht, unpolitisch zu sein.“

Raum o 76, 1. Stock, Profilkurs Politik. In der Tat: Unpolitisch sind die Elftklässler trotz der gefühlten Distanz zur Politik ganz und gar nicht. Wer kann sich vorstellen, in die Politik zu gehen? Fast alle melden sich. Sie wollen nicht unbedingt Berufspolitikerinnen und -politiker werden, aber sich engagieren. In Parteien oder als Aktivisten. Um für mehr Klimapolitik einzutreten, für mehr Investitionen in die Bildung statt in die Bankenrettung oder um Gleichstellungspolitik voranzubringen.

Geringes Interesse an Mitwirkung an Berufsschulen

So ein Interesse an politischem Engagement ist an beruflichen Schulen seltener, sagt Daniel Bauer vom Berliner Verein für Demokratie und Vielfalt in Schule und beruflicher Bildung (DEVI). Seit zehn Jahren sensibilisiert der DEVI in Seminaren und Projektgruppen an Schulen für Demokratie, informiert über das Wahlsystem, die Methodik politischer Aushandlungsprozesse und übt Möglichkeiten politischen Engagements inner- und außerhalb von Schule ein. Bauer: „Berufliche Bildung ist die letzte Möglichkeit, um junge Menschen von staatlicher Seite zu erreichen.“ Doch gerade die unterschiedliche Klientel an den Berliner Oberstufenzentren (OSZ) mit ihren heterogenen Bildungsgängen von Berufsschule über Fachoberschule, Gymnasium bis zur vollschulischen Berufsausbildung lasse sich nur schwer motivieren. „Oft ist es schon schwierig, Klassensprecher zu gewinnen“, sagt Bauer.

Das geringe Interesse an Mitwirkung habe mehrere Gründe: Die Jugendlichen sind je nach Bildungsgang und Praxisphasen unterschiedlich lang und oft an der Schule, eine Identifikation mit der Einrichtung entwickelt sich kaum. Zudem: „Wer sieht, dass er vom Arbeitsamt in einen Bildungsgang wie die integrierte Berufsausbildungsvorbereitung (IAB) gesteckt wurde, der später wenig Chancen auf einen Job eröffnet, fühlt sich fremd im politischen System – was tut das schon für mich?“, so Bauer. Und wer mangels deutscher Staatsangehörigkeit nicht wählen darf, obwohl er hier geboren ist, fühlt sich vom System ganz ausgeschlossen. „Das ist doch nur eine Scheindemokratie“, solche Sätze hören DEVI-Referentinnen und -Referenten zunehmend. Ab und an kämen neuerdings an Projekttagen in berufsvorbereitenden Gruppen auch Verschwörungstheorien auf.

„Wieso gibt es das Fach Politik erst ab Klasse 9 und nur wenige Stunden in der Woche? Demokratie beruht doch darauf, sie gemeinsam mitzugestalten.“  (Jan Ole)

Im SV-Raum der Fritz-Karsen-Schule sitzen am späten Vormittag vier Schülerinnen und Schüler der Jahrgangsstufe 13 zusammen. Alle haben Ende 2021 das erste Mal gewählt. Der 19-jährige Berk fand das „nichts Besonderes“, Elida, 18, „sehr aufregend“. „Endlich kann ich politisch mitentscheiden.“ Alle kämen aus sehr politischen Familien, erzählen sie. „Seit meiner Kindheit laufen schon mittags die Nachrichten im TV“, erzählt Elida. „Und oft wird so laut über Politik gestritten, dass man sein eigenes Wort nicht versteht. Früher fand ich das langweilig, inzwischen rede ich gerne mit.“ Denn sie ist überzeugt: Demokratie sei das bestmögliche System, „und doch können wir es verbessern“. Zum Beispiel in punkto freier Religionsausübung. Warum, fragt sie sich, werden Freundinnen von ihr, die hier geboren sind und ein Kopftuch tragen, nicht akzeptiert?

Auch in den Familien von Ayman und Berk gehören heftige politische Debatten zum familiären Alltag, oft teilen sie die Meinung ihrer Eltern nicht, inzwischen mischen sie sich selbst ein – und werden ernst genommen. Ayman: „Auch in der Gesellschaft brauchen wir mehr Austausch zwischen unterschiedlichen politischen Lagern, das ist zentral für eine Demokratie.“ Jan Ole übt das schon seit seiner Kindheit ein. Er ist in der SPD, Politik-Battles – vor allem mit seinem Vater – sind fast Kult geworden. „Manchmal übernehme ich spielerisch die entgegengesetzte Position – das schult das politische Denken“, sagt der 18-Jährige. Es ärgert ihn, dass „politische Grundbildung so vernachlässigt wird. Wieso gibt es das Fach Politik erst ab Klasse 9 und nur wenige Stunden in der Woche? Demokratie beruht doch darauf, sie gemeinsam mitzugestalten“.