Zum Inhalt springen

Lehrkräftemangel

„Wann können Sie anfangen?“

Von der Theaterwissenschaft ohne Fortbildung erst einmal in den Schulalltag – sieht so die Zukunft der Bildung aus? In Brandenburg jedenfalls war das bis jüngst möglich. Dieser Beitrag beendet die E&W-Serie zum Fachkräftemangel.

Foto: Pixabay / CC0

Die Anzeige auf Spiegel Online ist imposant: „Deutschland braucht mehr Lehrer.“ Nicola Nürnberger klickt auf das blinkende Banner, auch Brandenburg sucht Pädagogen. Wieso nicht? Jahrelang hat die Theaterwissenschaftlerin und Germanistin Schauspielgruppen geleitet, jüngst zwei Romane veröffentlicht. Jetzt hat sie Lust auf Neues, Solideres. Nürnberger bewirbt sich direkt beim Schulamt auf eine Stelle, per Mail. 30 Minuten später klingelt das Telefon – der Schulrat: „Wann können Sie anfangen?“

Gespräch mit der Direktorin der Grundschule, schön, Montag nach den Ferien geht es los. Der Klassenlehrer der Viertklässler ist seit Beginn des Schuljahres krank, einige Eltern haben sich schon beim Ministerium beschwert. Die Direktorin führt Nürnberger in die Klasse: „Kinder, das ist eure neue Lehrerin.“ Dann steht Nürnberger da. „Ich wusste nichts“, erinnert sich die 49-Jährige. Darf ich die Schüler allein lassen, um rasch kopieren zu gehen? Wie erkläre ich gut? Auch die Kolleginnen und Kollegen sind skeptisch, aber sie unterstützen die Seiteneinsteigerin, geben ihr Bücher und pädagogischen Rat. „Es war der absolute Kaltstart“, sagt Nürnberger. „Aber ich war neugierig und hatte Freude an der Dynamik des Schulalltags.“

Vier Jahre ist das her. Inzwischen hat Nürnberger sich – wie in Brandenburg vorgeschrieben – berufsbegleitend weiterqualifiziert. Freiwillig studiert sie zudem seit 2018 in Potsdam Lehramt für die Primarstufe. Sie hat einen unbefristeten Vertrag und ist zum festen Bestandteil des Kollegiums an einer kleinen Dorfschule 40 Kilometer südlich von Berlin geworden.

Der Seiteneinstieg in den Lehramtsjob ist ein Weg, über den Brandenburg den Lehrkräftemangel beheben will. Erst seit neuestem werden zumindest Bewerberinnen und Bewerber, die zu Halbjahresbeginn einsteigen, vorab 500 Stunden für ihren neuen Beruf qualifiziert. 13 Millionen Euro lässt sich Brandenburg dieses „Kompaktpaket“ kosten, das in langen Verhandlungen mit der GEW 2018 erkämpft wurde. Denn allen Seiten ist mittlerweile klar: So groß die Not an den Schulen sein mag, ohne eine gute Qualifikation der Seiteneinsteigerinnen und -einsteiger geht es nicht. Gut ein Fünftel der unbefristeten Stellen werden nach Angaben des Bildungsministeriums mit Seiteneinsteigern besetzt. Günther Fuchs, Vorsitzender der GEW Brandenburg: „Nimmt man die vielen befristeten hinzu, sind es nach unseren Schätzungen sogar mehr als 50 Prozent.“

„Für die Statistik heißt Ausfall: Unterricht wird ersatzlos gestrichen. Müssen Schülerinnen und Schüler Stillarbeit machen, Kurse zusammengelegt werden oder Lehrkräfte fachfremd unterrichten, gilt das statistisch als erteilter Unterricht.“ (Anja Hegenbarth)

Vor allem für Grund- und Oberschulen, in MINT-Fächern sowie in der Förderpädagogik sind Fachkräfte knapp. Das Ministerium schreibt auf Anfrage: „Auch für das Schuljahr 2018/19 konnten alle Stellen besetzt werden.“ Doch vielerorts ist Schule schon jetzt auf Kante genäht. „Sobald eine Lehrkraft ausfällt, ist der Notstand da“, kritisiert Anja Hegenbarth, GEW-Kreisvorsitzende Oder/Spree. Seit Jahren steige der Krankenstand in den Kollegien, die Vertretungsreserve sei mit 3 Prozent zu gering, um Ausfälle abzufedern.

Die offiziellen Statistiken zu Unterrichts-ausfällen dokumentieren einen Stundenausfall von 1,9 Prozent. Laut Hegenbarth sind diese allerdings wenig aussagekräftig: „Für die Statistik heißt Ausfall: Unterricht wird ersatzlos gestrichen. Müssen Schülerinnen und Schüler Stillarbeit machen, Kurse zusammengelegt werden oder Lehrkräfte fachfremd unterrichten, gilt das statistisch als erteilter Unterricht.“ Eine Blitzumfrage der GEW in Brandenburger Schulen kam 2017 daher auf eine deutlich höhere Zahl: auf 8 Prozent Ausfall. „Denn wenn Ausfälle lediglich mit Notmaßnahmen aufgefangen werden, hat das nichts mit regulärem Unterricht zu tun“, erklärt GEW-Landesvorsitzender Fuchs und fordert: „Wir brauchen endlich ehrliche, transparente Zahlen.“

Doch in punkto Zahlen sei die Landesregierung zugeknöpft. Im Landesverband „stößt das übel auf“, sagt Fuchs; auch die Schulen scheuten sich vor klaren Aussagen. Das erlebte auch die E&W, die bei ihrer Recherche eine Reihe Anfragen an Brandenburger Schulen schickte, auf die sie keine Antwort erhielt. Hinter vorgehaltener Hand, sagt Fuchs, werde allerdings viel geschimpft. „Hören Sie uff, die Klassen sind übervoll, wir arbeiten am Limit.“ Solche Aussagen höre er von Schulleitern oft, wenn er durchs Land toure, sagt der GEW-Landesvorsitzende. Auch über die Zahl der Seiteneinsteigerinnen und -einsteiger an den einzelnen Schulen fehlten Daten. Fuchs: „Es ist ungeheurer Druck im System.“

„Insbesondere an Schulen auf dem Land ist die Lage sehr angespannt.“  (Ulrike Schwenter)

Ulrike Schwenter beobachtet das seit Jahren. Sie ist Vorsitzende des Landeselternrates Brandenburg. „Wir erfahren nicht, wie viele Lehrer ausfallen.“ In den Kreiselternräten aber sei Unmut zu spüren. Die einen erzählen von einer Grundschule, die Noten im Englischunterricht aus dem ersten Halbjahr auf das Zeugnis im zweiten übertrug, weil es keinen Englischunterricht mehr gegeben hatte. Andere berichten, dass bei den Seminararbeiten mit Präsentation in der Oberstufe der mündliche Vortrag gestrichen wurde, weil die Lehrkräfte keine Zeit hatten. Schwenter: „Insbesondere an Schulen auf dem Land ist die Lage sehr angespannt.“

Dabei war der Mangel absehbar, kritisiert die bildungspolitische Sprecherin der Grünen in Brandenburg, Marie-Louise von Halem. „Schon vor zehn Jahren hätte man einstellen können.“ Die Daten zur heranrollenden Pensionierungswelle lagen auf dem Tisch; dass zumindest in MINT-Fächern bald Nachwuchs fehlen würde, war bereits damals bekannt. Doch das Land stützte sich auf die rückläufigen Geburtenzahlen. Das rächt sich jetzt, da die Geburten wieder leicht steigen. Der Zuzug aus Berlin sowie von Migrantinnen und Migranten verschärft die Situation, und neue pädagogische Anforderungen wie Inklusion erfordern zusätzliches Personal.

Um so mehr begrüßt von Halem das neue Engagement der Landesregierung für Seiteneinsteiger. Die Bildungspolitikerin fordert den Aufbau eines länderübergreifenden Online-Fortbildungsnetzes. „Alle Bundesländer stellen Seiteneinsteiger ein, wir sollten dringend alle Kräfte bündeln.“ Sicher ist: Wenn Seiteneinsteigerinnen und -einsteiger nicht ausreichend qualifiziert sind, ist nicht nur die Qualität des Unterrichts gefährdet. Auch das Risiko, überfordert wieder hinzuschmeißen, steigt. GEW-Mann Fuchs: „Die Abbrecherquote liegt zwischen 6 und 10 Prozent.“

„Durch die Inklusion ist der Bedarf in Förderpädagogik enorm gestiegen.“ (Andreas Musil)

Freilich setzt das Land auch auf andere Maßnahmen. Es lockt Fachkräfte mit Verbeamtung, seit 2014 müssen Lehrkräfte an Grundschulen, seit 2015 an allen Schulen eine Stunde weniger unterrichten. Für großen Wirbel sorgte Ende 2017 die Anhebung der Besoldung für Grundschullehrkräfte auf A13/E13, bis 2020 werden alle Lehrkräfte der Primarstufe hochgestuft – ein großer Erfolg der GEW. Mit 400 Euro Zuschlag im Monat will das Ministerium Lehrkräfte kurz vor dem Ruhestand dazu bewegen, später in Pension zu gehen.

Priorität hat allerdings der Ausbau von Studienplätzen. Elf Millionen Euro machte das Land dafür locker. Derzeit bietet die Universität Potsdam 650 Studienplätze für Lehramt pro Jahr, bis 2020 sollen diese auf 1.000 aufgestockt werden. Ab 2020 sind 130 Plätze in neuen Fachrichtungen geplant: vor allem für Förderpädagogik in der Sekundarstufe und ein Spezialstudienprogramm Mathe-Physik. „Durch die Inklusion ist der Bedarf in Förderpädagogik enorm gestiegen“, sagt Andreas Musil, Vizepräsident der Universität Potsdam für Lehre und Studium. „Mit der Mathe-Physik-Kombination reagieren wir auf den Wunsch der Studierenden nach mehr schulbezogenen Inhalten.“ Seit Jahren wirbt die Universität auch direkt in den Schulen für ihre MINT-Fächer. „Besonders gefragt sind dennoch die Geisteswissenschaften.“ Mehr Steuerung fordert daher GEW-Landeschef Fuchs.

Allerdings: 35 bis 40 Prozent der Studierenden brechen das Studium ab. Mit einem Strauß von Maßnahmen von Online-Eignungstests bis zu einer besseren Betreuung der Praxisphasen von Lehramtsstudierenden will die Hochschule die Quote auf 25 Prozent senken. Aber auch damit ist noch keineswegs sicher, dass der Nachwuchs in den Schulen ankommt: Nur jeder dritte Absolvent arbeitet nach Einschätzungen des Wissenschaftsministeriums als Lehrkraft in Brandenburg.

Seiteneinsteigerin Nürnberger wird bleiben. Wenn sie morgens im Dämmerlicht über die menschenleeren Straßen des Landes fährt, links Felder, rechts Wälder, kleine Orte, Einsamkeit, weiß sie: „Hier werde ich gebraucht. Das fühlt sich gut an.“