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Guatemala

Von der Müllkippe zum Abitur

Cobán heißt die Stadt im Norden Guatemalas, in der Sergio Godoy die „Schule der Hoffnung“ gegründet hat. Das um Gesundheits- und Hilfsangebote erweiterte Bildungsprojekt hat den Wandel in einem verrufenen Stadtteil auf den Weg gebracht.

Der Fußball, der Suppentopf und das Bild des bärtigen Padre, mit dem alles begann, sind neben Bleistift, Noten und einem Früchte tragenden knallbunten Baum auf dem bemalten Eingangstor der „Stadt der Hoffnung“ zu sehen. Die „Ciudad de la Esperanza“ liegt oberhalb von Esfuerzo I, einem Armenviertel am Rande der im Hochland Guatemalas liegenden Stadt Cobán. „Unsere Schule befindet sich in einem Stadtviertel, das für viele Bewohnerinnen und Bewohner Cobáns immer noch eine von Gewalt geprägte Risikozone ist“, erklärt Byron Anibal Gómez. Für 411 Schülerinnen und Schüler zwischen fünf und 18 Jahren koordiniert der 34-jährige Rektor der „Schule der Hoffnung“ den Unterricht.

Der läuft so gut, dass die private Bildungseinrichtung mit öffentlichen wie privaten Schulen aus besseren Stadtvierteln Cobáns konkurrieren kann. Das sei kein Zufall, beton der Schulleiter. „Wir verfolgen einen umfassenden Ansatz. Zur ,Stadt der Hoffnung‘ gehören die Schule, Gärten für den Lebensmittelanbau, das kleine Krankenhaus, unsere psychologische Praxis, das Team aus Sozialarbeitern sowie die Beauftrage für Menschenrechte, die Kollegin María del Rosario Piñera.“ All das stehe Schülerinnen und Schülern, ihren Familien sowie den Menschen aus Esfuerzo I offen. „Wir haben während der Corona-Pandemie den Kontakt zu den Familien gehalten, Lebensmittel und Schulmaterialien vorbeigebracht.“

„Für mich war mein erster Spaziergang durch die Gemeinde mit dem Besuch der Müllkippe ein Schock: Ich sah, wie sich Kinder um Lebensmittel aus Abfalltüten balgten, während ihre Eltern Plastik, Glas, Blech und Kartonagen aus dem Müll sammelten.“ (Padre Godoy)

Das ist überaus wichtig, denn die Eltern vieler Schülerinnen und Schüler verdienen sich als Wertstoffsammler auf der nur 600 Meter von der Schule entfernten Müllkippe Cobáns ihren Lebensunterhalt. Geld für Computer, Internet und virtuellen Unterricht ist schlicht nicht vorhanden. Der siebenjährige Miguel, Sohn der Recycling-Sammlerin Laura Estévez, ist dafür ein Beispiel. Dem mageren Burschen mit den struppigen Haaren sieht man an, dass er keinen guten Start ins Leben hatte. Flackernder Blick, unsicher, oft unkonzentriert sei er und suche den Kontakt zu Lehrerinnen und zu mir, erzählt die Menschenrechtsbeauftragte Piñera.

Die 56-jährige Grundschullehrerin ist von Beginn an dabei, hat die Bildungseinrichtung vor knapp 20 Jahren gemeinsam mit Padre Godoy initiiert. Godoy, ein mittelgroßer, drahtiger Mann mit graumeliertem Bart, kam 2003 in die Diözese von Esfuerzo I. „Für mich war mein erster Spaziergang durch die Gemeinde mit dem Besuch der Müllkippe ein Schock: Ich sah, wie sich Kinder um Lebensmittel aus Abfalltüten balgten, während ihre Eltern Plastik, Glas, Blech und Kartonagen aus dem Müll sammelten.“

Mit einem Topf voller Suppe und einem Fußball tauchte er am nächsten Tag wieder auf, knüpfte Kontakte, kickte mit den Kindern und Halbwüchsigen und begann ein paar Tage später, sie zu unterrichten. Da entstand die Idee zur Gründung der Schule in einem Stadtviertel, das die staatlichen Institutionen sich selbst überlassen hatten. Kirchliche Kontakte im In- und Ausland sorgten für die Anschubfinanzierung für die private Schule auf städtischem Grund.

Intrafamiliäre Gewalt ist latentes Problem

„Für uns war die Ernährung der Kinder von Beginn an zentrales Element. Mit leerem Magen lernt es sich schlecht“, erklärt Padre Godoy. Der Geistliche scheut sich nicht, die regionalen Behörden in die Pflicht zu nehmen, kritisiert offen das politische Establishment in Guate-mala. „Wir sind die ersten bei der Korruption, die letzten bei den Bildungsausgaben.“ Durch geschickte Kooperationen mit lokalen sozialen Trägern, kirchlichen Organisationen und US-Universitäten hat er das Angebot der „Stadt der Hoffnung“ stetig ausgeweitet.

Vier Stunden pro Tag steht ein Arzt zur Verfügung, zweimal pro Woche kommen ein Zahnarzt und eine Psychologin in die etwas andere Bildungseinrichtung. Fachleute, die genauso die Augen und Ohren offen halten wie die 19 Lehrkräfte und die Menschenrechtsbeauftrage Piñera. „Intrafamiliäre Gewalt ist ein latentes Problem im Stadtviertel Esfuerzo I. Sie hat während der Pandemie zugenommen. Mitverantwortlich dafür sind beengte Wohnverhältnisse, drückende finanzielle Probleme und Alkoholmissbrauch“, sagt Piñera.

Deshalb würden sich auffällig verhaltende Kinder und Jugendliche befragt und zur Not in der betreuten Wohnung untergebracht, so Piñera. Ein Meilenstein im Kampf gegen sexuelle Gewalt war vor ein paar Jahren die Verurteilung eines Familienvaters zu 27 Jahren Haft wegen Missbrauchs seiner drei Töchter. Das hatte einen positiven Effekt in Esfuerzo I, gerade weil Piñera und ihr Team Familien konsequent unterstützen. Das Urteil trug dazu bei, dass sich Kinder und Heranwachsende, aber auch Mütter heute selbstbewusster bewegen.

„Die Schule öffnet viele Optionen. Ich habe nach dem Abi gute Chancen auf ein Stipendium für eine Ausbildung im gastronomischen Sektor. Das bieten nur wenige Schulen.“ (Paola Casado)

Ein Beispiel ist Gloria. Die Zwölfjährige hat gerade ihre Klasse verlassen und will mit ihrem Cousin Anderson nach Hause gehen. Die Schülerin weiß genau, was sie in fünf, sechs Jahren machen will. „Recht studieren, ich will Anwältin werden“, sagt sie und blickt um sich. Eine Lehrerin, die gegenüber Klassenarbeiten auf einer Bank sortiert, nickt anerkennend.

Etwas weiter unten im langen, mit hellen Farben gestrichenen Gang, von dem die Türen der Klassenräume abgehen, wartet Amarilis Casado auf ihre 17-jährige Tochter Paola, die im nächsten Jahr Abitur machen wird und überaus zufrieden ist. „Die Schule öffnet viele Optionen. Ich habe nach dem Abi gute Chancen auf ein Stipendium für eine Ausbildung im gastronomischen Sektor. Das bieten nur wenige Schulen“, sagt sie. Zudem sei sie dank der Förderung durch die Lehrerinnen und Lehrer viel selbstbewusster geworden, blicke optimistischer in die Zukunft.

Das ist nicht nur ein Erfolg der Bildungseinrichtung und des jungen und engagierten Kollegiums, sondern auch des Wandels, der sich im Stadtviertel mehr und mehr bemerkbar und auch vor der Müllkippe nicht haltmacht. Kinder haben da schon länger keinen Zutritt mehr und deren Eltern dürfen nur noch an festen Tagen zum Sammeln der Wertstoffe kommen. Das hat die Stadtverwaltung verfügt, die die Deponie zudem sanieren und neu strukturieren will. Ein indirekter Effekt der kontinuierlichen Arbeit in der „Stadt der Hoffnung“.