Nachhaltiges Lernen
Von Axolotl bis Zucchini
Die protestantische Kita Betzenberg in Kaiserslautern zeigt, warum Bildung für nachhaltige Entwicklung von klein auf für alle Kinder wichtig ist.
Zwischen tristen Hochhäusern und Mehrfamilienblocks findet sich der Eingang zur Kita versteckt hinter einem Parkplatz: Wer das Gartentor öffnet, hört an einem kleinen Tümpel laut einen Frosch quaken, dahinter hüpfen Kindergartenkinder über ein Beet. Eben haben sie die Kaninchen im Außengelände mit Möhren gefüttert, jetzt hocken sie sich auf den Boden und bestaunen die Erdbeerpflanzen. „Ohhhh, ich habe eine Erdbeere entdeckt“, sagt Liam, 6, und deutet auf eine kleine Frucht zwischen weißen Blüten. „Und da. Und da auch.“ Luisa, 4, gräbt ihre Finger tief in die braune Erde. „Guckt mal, eine riesige Ameise“, ruft Marc, 5, aufgeregt. „Wo?“ Alle Kinder drängeln herbei. Der Junge zeigt auf ein gezacktes Blatt, auf dem ein winziges Insekt krabbelt. „Das ist ein Käfer“, erklärt die Erzieherin Sonja Mayer. Verwundert blickt Adrian, 6, sie mit großen Augen an: „Warum? Wo ist die Ameise?“
In der protestantischen Kita Betzenberg wird Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) ganz selbstverständlich im Alltag gelebt. „Tiere und Natur spielen bei uns eine große Rolle“, sagt Mayer. Im Flur hüpfen in einer Voliere kleine Wellensittiche hin und her, ein paar Schritte weiter döst in einer Vitrine eine Bartagame auf einem Stein, und in einem Aquarium flitzen bunte Fische umher. Im Rollenspielraum hocken zwei Axolotl im Sand hinter Glas, im Bauzimmer leben afrikanische Riesenschnecken, im Traumzimmer wühlen sich Wüstenrennmäuse durch Sägespäne und im Ruheraum paddeln Wasserschildkröten durchs Becken. „Die Kinder sollen lernen, dass Tiere auch Bedürfnisse haben“, betont Erzieherin Sarah Seidl, „die es genauso zu achten und zu respektieren gilt wie die der Menschen.“
Verantwortungsbewussten Umgang mit der Natur vermitteln
Alle Tiere in der Kita wurden aus einem Tierheim geholt, von Privatleuten übernommen oder vor dem Schlachthof gerettet. Stirbt ein Tier, bleibt das Gehege erst einmal leer. „Die Kinder bekommen Zeit, traurig zu sein und den Verlust zu verarbeiten.“ Danach überlegen sie gemeinsam, welche neuen Tiere einziehen sollen. Und sprechen darüber, warum ein Delfin zum Beispiel keine gute Idee ist. Bei Kinderkonferenzen dürfen die Mädchen und Jungen auch selbst über die Namen entscheiden: Eine Maus heißt deshalb Batman, zwei Kaninchen heißen Anna und Elsa.
Die Kita hat sich zum Ziel gesetzt, einen verantwortungsbewussten Umgang mit der Natur zu vermitteln. Direkt vor dem Gebäude wächst ein Apfelbaum, an der Wand ranken sich Himbeersträucher hoch, wohin der Blick auch fällt: Alles ist grün. Aus jedem Fenster blicken die Kinder auf Bäume, an vielen davon sind Nistkästen angebracht, neben einem Fliederstrauch steht ein riesiges Insektenhotel, dazwischen blühen Pfingstrosen und Glockenblumen. Seidl zählt auf, was sie im Garten der Kita alles anbauen. Ob Kartoffeln, Tomaten oder Zucchini: Die Kinder helfen fleißig beim Ernten und Kochen. „Jeden Tag gibt es Gemüse oder Salat“, sagt die Erzieherin. Aus Rhabarber und Erdbeeren bereiten sie Marmelade zu, aus Äpfeln machen sie Apfelmus. Bis vor kurzem lebten im Garten noch Wachteln. Die Kinder sammelten die Eier und brutzelten gemeinsam Spiegeleier.
„Die Kinder erleben ganz direkt, wo die Lebensmittel herkommen. Sie erfahren den Wert der Dinge.“ (Sonja Mayer)
„Die Kinder erleben ganz direkt, wo die Lebensmittel herkommen“, berichtet Mayer. Sie bekämen ein Bewusst-sein dafür, dass es nicht damit getan ist, achtlos eine Packung aus dem Supermarkt aufzureißen – und fertig. „Sie erfahren den Wert der Dinge.“ Zum Beispiel, wie viel Anstrengung es ein Huhn kostet, jeden Tag ein Ei zu legen. Oder wie lange es dauert, bis eine Erdbeere gepflückt werden kann. „Wir hoffen, so im Kleinen etwas zu bewegen“, sagt die stellvertretende Leiterin der Einrichtung. Viele Kinder lebten in den Hochhäusern ringsherum, ihre Eltern seien teilweise arbeitslos oder alleinerziehend. „Die Familien haben ganz andere Sorgen.“ Nicht alle Kinder seien gewohnt, dass ihnen jemand Frühstück macht oder ein warmes Mittagessen kocht. In der Kita lecken sie zum ersten Mal an einer Zitrone oder probieren etwas Minze, Rosmarin oder Thymian. „Das finden sie megaspannend“, sagt Mayer.
Morgens röstet die Köchin in einer Pfanne frische Nüsse, mischt Porridge fürs Frühstücksbüffet und bereitet Fruchtjoghurt selbst zu. „Man merkt, wie sehr die Kinder das lieben“, berichtet Seidl. Fleisch gibt es nur einmal pro Woche, wenn überhaupt. Doch niemand vermisse es. Ob Zucchinisuppe oder Kartoffelauflauf: „Die Kinder freuen sich über alles, was auf den Tisch kommt.“ Sie dürfen sich selbst nehmen, so viel sie wollen, sollen aber darauf achten, dass nicht unnötig viel übrigbleibt und weggeworfen werden muss.
Lebensrealität aller Kinder im Blick haben
Wichtig sei, stets die Lebensrealität aller Kinder im Blick zu haben, betont Doreen Siebernik, bei der GEW für Jugendhilfe und Sozialarbeit verantwortlich: „Deshalb muss BNE unbedingt ökologische und soziale Aspekte vereinen. Die beiden Fragen dürfen wir nicht voneinander trennen. Sonst gehen damit Diskriminierung und Ausgrenzung einher.“ So sei es zum Beispiel nicht mit der Forderung getan, dass alle nur noch Bioprodukte kaufen oder auf billige Fast Fashion verzichten sollen. Schließlich könnten sich viele Familien so eine Form des Konsums gar nicht leisten. „Dadurch würde ihre soziale Teilhabe beschnitten“, gibt Siebernik zu bedenken. Wichtig sei, Kindern schon von klein auf ein anderes Bewusstsein für die Natur und Umwelt zu vermitteln. Sie müssten lernen, dass ihr eigenes Handeln direkte Auswirkungen hat – und dass sie Teil eines großen Ganzen sind. Die zentrale Frage laute: „Wie können wir gemeinsam dazu beitragen, dass es allen Menschen und Tieren gutgeht?“
„Wir wollen die Kinder sensibilisieren. Kinder sind unsere Zukunft. Wir hoffen, dass sie das Ruder noch rumreißen.“
Das Team der Kita in Kaiserslautern geht mit den Kindern so oft wie möglich in den Wald. Dabei nehmen sie stets frisches Gemüse und Obst in Boxen mit, -schenken Wasser in Becher aus, um auf Plastik und Müll zu verzichten. Auf dem Weg bringen sie Käfer in Sicherheit und sammeln Abfall ein. Themen wie Massentierhaltung, Klimaschutz, Nachhaltigkeit oder Bioprodukte werden höchstens am Rande gestreift. „Solche Fragen sind in dem Alter der Kinder noch viel zu komplex“, meint Mayer. „Uns geht es vor allem darum, Werte mit den Kindern gemeinsam zu leben.“ Dabei soll den Mädchen und Jungen ein Bewusstsein dafür vermittelt werden, dass sie einen Unterschied machen. „Wir üben mit ihnen auch, ihre Meinung zu äußern und sich zu beteiligen.“ Die Botschaft lautet: selbst Verantwortung übernehmen.
Oft sind es Kleinigkeiten. Zum Beispiel gibt es auf den Toiletten aus Hygienegründen nur Papierhandtücher. Die Kinder lernen, wie viele Bäume dafür gefällt werden müssen. Und entscheiden selbst, wie viele Tücher sie tatsächlich benutzen. Das gilt auch für Papier zum Malen: Muss es jedes Mal ein weißes Blatt sein? „Wir wollen die Kinder sensibilisieren“, sagt Mayer. „Kinder sind unsere Zukunft. Wir hoffen, dass sie das Ruder noch rumreißen.“