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Erinnerungs- und Gedenkstättenpädagogik

Vom Zeit- zum Zweitzeugen

Es wird nicht mehr lange dauern, bis die letzten Überlebenden des Holocaust verstorben sind. Ihr Tod wird die Erinnerungsarbeit nachhaltig verändern.

77 Jahre sind seit der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau vergangen. Die Erinnerungspädagogik muss darauf reagieren. (Foto: IMAGO/NurPhoto)

Mitte März starb Leon „Henry“ Schwarzbaum im Alter von 101 Jahren in Potsdam. Der ehemalige KZ-Häftling in Sachsenhausen und Auschwitz hatte bis wenige Jahre vor seinem Tod in Schulen und Ausbildungsbetrieben über sein Schicksal berichtet und hätte im laufenden Prozess gegen einen mutmaßlichen ehemaligen SS-Wachmann befragt werden sollen. Auch weil das nun nicht mehr möglich sein wird, wurde in den Medien die Frage aufgeworfen, wie das Gedenken an die NS-Zeit überhaupt noch wachgehalten werden könne, wenn in absehbarer Zeit auch die letzten Zeitzeugen gestorben sein werden.

Genau diese Frage stellen sich Historiker und die Verantwortlichen in den Gedenkstätten schon seit längerem. Und sie haben im Wesentlichen zwei Antworten darauf gefunden. Zum einen die Entwicklung neuartiger Formen der Erinnerungskultur. Zum anderen einen Weg, wie die persönlichen Erlebnisse der Holocaust-Überlebenden eben doch möglichst unmittelbar erhalten bleiben könnten. Warum genau das wichtig ist, liegt auf der Hand:

„Sie stehen mit ihrer Leidensgeschichte stellvertretend für das millionenfache Leid der ermordeten Opfer, die nicht mehr berichten können“, sagt der Frankfurter Erziehungswissenschaftler Wolfgang Meseth in einem Beitrag für die Bundeszentrale für politische Bildung. Dass es gravierende Folgen hat, wenn die einzigen Menschen, die unmittelbar und authentisch berichten können, genau das aus biologischen Gründen nicht mehr tun können, versteht sich da von selbst.

Gespräche filmisch festhalten

„Zeitzeugen werden nicht mehr lange sprechen können“, heißt es auf der Homepage des Vereins „Heimatsucher“. Dessen Mitglieder verstehen sich folgerichtig als „Zweitzeugen“, also als Menschen, die die Erzählungen der Holocaust-Opfer über die Generationen weitertragen. Jeder, der einem Zeitzeugen zuhöre, werde selbst zu einem, ist auf der Vereins-Website zu lesen. Die „Heimatsucher“ haben im Winter in Dortmund erstmals eine Freiluft-Ausstellung organisiert, für 2023 ist die erste Indoor-Ausstellung geplant.

Ohne den Begriff der „Zweitzeugin“ selbst zu verwenden, arbeiten auch Menschen wie Claire Désenfant, aktiv bei „Omas gegen Rechts Freiburg“, als solche. Vor Schulklassen berichtet sie über das Schicksal ihres Vaters, der als Angehöriger der französischen „Résistance“ im Gestapo-Gefängnis in Lille gefoltert wurde. „Offenbar wirkt eine biografische Geschichte direkter als andere Arten der Wissensvermittlung“, berichtet sie.

Auch in den Gedenkstätten hat man sich in den vergangenen Jahren darauf eingestellt, dass es nicht mehr lange dauern wird, bis die letzten verbliebenen Zeitzeugen verstorben sein werden. Leszek Szuster, der die internationale Jugendbegegnungsstätte in Oświęcim leitet, befürchtet, „dass beim 80. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz wahrscheinlich niemand mehr unter uns sein wird, der das alles miterlebt hat“.

Das sei menschlich und inhaltlich ein Verlust, schließlich seien vor allem für jugendliche Besucherinnen und Besucher die Gespräche mit den Zeitzeugen immer der ergreifendste, intensivste Moment einer Gedenkstättenführung gewesen. Um die individuellen Schicksale möglichst lange in Erinnerung zu behalten, ist man in Oświęcim wie auch in einigen anderen Gedenkstätten schon vor Jahren dazu übergegangen, Gespräche mit Zeitzeugen filmisch festzuhalten.

„In 100 Jahren wird das normal sein und nicht als unnatürlich empfunden werden.“

Der technologische Fortschritt ist derweil auch in der Erinnerungsarbeit nicht folgenlos geblieben. Bereits 2017 ließ sich die Auschwitz-Überlebende Eva Schloss, eine Stiefschwester von Anne Frank, für die „Shoah Foundation“ von Regisseur Steven Spielberg aus 116 Kameraperspektiven filmen. Entstanden ist dabei ein „interaktives Hologramm“, eine dreidimensionale Projektion, die dem Gegenüber den Eindruck vermitteln soll, sich mit der echten Eva Schloss zu unterhalten.

„In 100 Jahren wird das normal sein und nicht als unnatürlich empfunden werden“, zeigt sich eine der Projektleiterinnen im Film „116 Cameras“ überzeugt. So lange muss man vielleicht gar nicht warten: Der WDR stellte bereits im vergangenen Jahr eine kostenlose App („WDR AR 1933–1945“) zur Verfügung, die auf ebendiesem Prinzip der „augmented reality“ beruht und bereits verstorbene Zeitzeugen und deren Erinnerungen auf Handys und Tablets bringt.

3-D-Avatare nur bedingt geeignet

Johannes Lauer hat jedoch eine differenzierte Sicht auf diese 3-D-Avatare. Dass diese besonders jüngere Menschen faszinieren, merkt der wissenschaftliche Mitarbeiter der Gedenkstätte Flossenbürg, der die Ausstellung „Ende der Zeitzeugenschaft“ mitkonzipiert hat, bei Führungen mit Schulklassen. „Eine Zielgruppe, die nicht so wahnsinnig gerne liest, findet das cool.“ Insofern biete die Technik die Chance, junge Menschen zu sensibilisieren, die ansonsten nicht zu erreichen wären.

Man müsse allerdings um die Tücken der Technik wissen, die zudem im Alltagsbetrieb zu kostspielig sei, als dass Einrichtungen wie seine sie dauerhaft nutzen könnten. „Wenn der Avatar die falsche Antwort auf eine Frage gibt, kippt das Ganze sofort ins Lächerliche.“

Spontane Nachfragen, wie sie zu echten angeregten Gesprächen gehören, seien zudem bei „Gesprächen“ mit den Avataren nicht möglich, da das damals noch lebende Vorbild sie ja zu Lebzeiten nicht einsprechen konnte. Längst arbeitet man auch in Flossenbürg mit technisch aufbereiteten Zeitzeugen-Berichten. So ertönen bei der Dauerausstellung aus pilzförmigen Audio-Säulen heraus die Stimmen von Zeitzeugen wie den Einwohnern des Ortes Flossenbürg, die kurz nach der Befreiung des KZ 1945 über das Grauen direkt vor ihren Augen befragt wurden.

Oft, weiß Lauer, seien es jedoch die hochbetagten Zeitzeugen selbst, die in ihren letzten Lebensjahren darauf drängen, dass ihre Erlebnisse in einer Form konserviert werden, die auch für künftige Generationen von Nutzen sein können. „Das sind ja häufig Menschen, die bis ins sehr hohe Alter zweimal die Woche in Schulen waren, um zu berichten. Die haben ein tiefes Bedürfnis, dass es weitergeht“, sagt Lauer. „Und wer wollte ihnen das absprechen?“