Zum Inhalt springen

Tarifrunde TVöD 2020

Vom Beifall kann man sich nichts kaufen

Wie wichtig die Arbeit im Sozial- und Erziehungsdienst ist, hat die Coronapandemie gezeigt. Darum sei die Forderung nach 4,8 Prozent mehr Gehalt berechtigt, sagt Linda Engels, Vorsitzende der Bundesfachgruppe Sozialpädagogische Berufe der GEW.

Linda Engels (Foto: David Peters)
  • E&W: Künstler, Gastronomen und Soloselbstständige bangen in diesen von Corona geprägten Zeiten um ihre Existenz. Ist eine Forderung nach knapp 5 Prozent mehr Gehalt da angebracht?

Linda Engels: Auf jeden Fall. Auch in diesen ökonomisch schwierigen Zeiten bleiben die laufenden Kosten, etwa für Essen und Miete, für unsere Mitglieder auf dem hohen Niveau früherer Zeiten. Ich kenne jedenfalls keine Erzieherinnen oder in der Sozialarbeit Tätigen, deren Vermieterinnen oder Vermieter auf die Idee gekommen sind, die Miete zu senken. Ich bin fest davon überzeugt, dass es gerade jetzt Lohnerhöhungen geben muss.

  • E&W: Warum?

Engels: Wer hat denn in den vergangenen Monaten auch unter Einsatz der eigenen Gesundheit vielen die Vereinbarkeit von Familie und Beruf und damit auch finanzielle Sicherheit ermöglicht, obwohl Kitas und Schulen ihren Betrieb einstellen mussten? Es waren doch die Kita-Kräfte, Sozialarbeiterinnen und -arbeiter sowie Lehrkräfte, die die Betreuung von Kindern aufrecht hielten für jene Familien, die am dringendsten darauf angewiesen waren.

  • E&W: Dafür zollte die breite Öffentlichkeit ihnen große Anerkennung.

Engels: Schon richtig. Aber vom Beifall kann sich niemand ein Brot kaufen. Die Corona-Auswirkungen, die uns ja mit Sicherheit in unserer täglichen Arbeit noch einige Monate begleiten werden, haben noch einmal gezeigt, wie wichtig der öffentliche Dienst, besonders auch die Arbeit der im Sozial- und Erziehungsdienst Tätigen ist. Die vergangenen Monate haben offengelegt, was schon lange im Argen liegt: kapitalistische Strukturen, die auf den Schultern der Beschäftigten ausgetragen werden, und längst überfällige Reformen.

  • E&W: Es fehlt allerdings der berufliche Nachwuchs. Reicht ein höheres Gehalt, um mehr jungen Menschen diese Arbeit schmackhaft zu machen?

Engels: Durch das Finanzielle wird die Tätigkeit aufgewertet. Auch wenn es in der nun anstehenden Tarifrunde nicht um Höhergruppierungen geht, muss man schon sagen, dass es einen deutlichen Nachholbedarf gibt. Wenn es diese so enorm engagierten und hochqualifizierten Menschen im Sozial- und Erziehungsdienst, die Kinder nicht nur betreuen, sondern bilden und erziehen, nicht gäbe, würde unser gesellschaftliches System zusammenbrechen. Es ist auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf angewiesen. Da hat es in der Vergangenheit sicher erste Schritte in die richtige Richtung gegeben. Beispielsweise gibt es seit ein paar Jahren die Praxisintegrierte Ausbildung (PiA) zur Erzieherin und zum Erzieher – hier bekommen die Studierenden von Beginn an eine Ausbildungsvergütung. Der Andrang auf diese Form der Ausbildung ist hoch, jedoch gibt es noch nicht genügend Schulplätze bzw. Träger, die die Ausbildung anbieten. Hier muss weiter öffentlich gefördert werden.

  • E&W: Dann ist Geld also doch das entscheidende Kriterium?

Engels: Es ist ein wichtiges Kriterium, aber nicht das allein ausschlaggebende. Es fehlt an Personal, die oft unbezahlte Ausbildung ist unattraktiv, und die Aufstiegschancen sind minimal. Für viele stellt sich zudem die Frage, ob sie mit 60 Jahren immer noch mit den Kindern auf dem Bauteppich „rumturnen“ möchten oder wie ihre Tätigkeit dann aussehen könnte.

  • E&W: Wie verschärft Corona die Situation für die älteren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter?

Engels: Auch wenn es darum in der Tarifrunde nicht geht, dürfen wir den Blick darauf nicht vernachlässigen. Was passiert mit jenen Kräften, die nach Corona vielleicht nicht wieder in den Sozial- und Erziehungsdienst zurückkehren können? Was passiert mit den Älteren und jenen, die zur sogenannten Risikogruppe zählen. Diese Fragen lassen sich mit Geld allein nicht beantworten. Da müssen sich die Arbeitgeber etwas einfallen lassen.

  • E&W: Was hören Sie von den Mitgliedern der GEW, wenn Sie mit ihnen über die Attraktivität des Berufs sprechen?

Engels: Jedenfalls nicht als erstes money, money, money. Sie wünschen sich mehr Personal und bessere Rahmenbedingungen. Und gleichzeitig wissen alle, dass es uns vorne und hinten an Fachkräften mangelt und auch künftig mangeln wird.

  • E&W: Was müsste sich außer einer Gehaltsaufbesserung also noch ändern?

Engels: Wir brauchen dringend bundeseinheitliche Qualitätsstandards für die Kitas – das hätte mit dem sogenannten Gute-Kita-Gesetz umgesetzt werden können, die Chance haben die Länder und der Bund jedoch vertan. Gute Qualität meint etwa eine verbesserte Fachkraft-Kind-Relation mit dem Schlüssel 1:2 für unter Einjährige, 1:3 für Ein- bis Dreijährige, 1:8 für Drei- bis Fünfjährige und 1:10 für Kinder ab sechs Jahren.

  • E&W: Wie unterscheidet sich die Tarifrunde 2020 von früheren in Zeiten ohne Corona?

Engels: Die Gewerkschaften hatten vorgeschlagen, die Lohnrunde ins kommende Jahr zu verschieben, wenn sich alles hoffentlich wieder ein Stück weit beruhigt und normalisiert hat. Das haben die Arbeitgeber abgelehnt. Für uns hat das beispielsweise konkret die Mobilisierung der Mitglieder erschwert. In Nordrhein-Westfalen etwa haben wir den Online-Weg gewählt, um uns ein Meinungsbild zu verschaffen. Andere Geschäftsstellen haben sich analog, dann aber mit deutlich weniger Menschen getroffen und gesprochen. Der direkte intensive Austausch – wie bislang gewohnt – ist weggefallen.

  • E&W: Blicken wir zehn Jahre voraus. Welche Schlagzeile würden Sie dann gerne in den Medien über den Sozial- und Erziehungsdienst lesen?

Engels: Endlich gerechter Lohn für harte Arbeit: Beschäftigte des Sozial- und Erziehungsdienstes haben die 3.000-Euro-netto-Marke bei einer 35-Stunden-Woche geknackt!

Untertitel: Nach erneuten intensiven Verhandlungen mit den Arbeitgebern gibt es endlich bundeseinheitliche Qualitätsstandards in allen sozialen Einrichtungen.