NASUWT wurde vor 100 Jahren gegründet
Nach drei Jahrzehnten der Gewalt hatten die verfeindeten Parteien im Nordirlandkonflikt 1998 mit dem sogenannten Karfreitagsabkommen („Good Friday Agreement“) einen Frieden geschlossen. Von Karfreitag bis Ostersonntag 2019 hatte die britische Bildungsgewerkschaft NASUWT (National Association of Schoolmasters Union of Women) zu ihrer jährlichen Konferenz und zugleich zur Feier ihres 100jährigen Bestehens nach Nordirland eingeladen. Die Konferenz der zweitgrößten Lehrkräftegewerkschaft im Vereinigten Königreich eröffnete mit einer Schweigeminute für die am Vorabend bei Unruhen in Derry ermordete Journalistin Lary McKee.
Arbeitsbelastung im Schulalltag
Die Diskussionsbeiträge der Delegierten aus allen vier Landesteilen England, Wales, Schottland, Nordirland zeigten eine große Gemeinsamkeit: die hohe Arbeitsbelastung. Zwischen 50 und 70 Stunden arbeitet eine Lehrkraft im Durchschnitt. Die zeitliche Belastung ist jedoch nur eine Seite. Hinzu kommt die mangelnde Disziplin im Klassenzimmer und eine erschreckende Zunahme von physischen und medialen Angriffen. NASUWT-Generalsekretärin Chris Keats berichtete von zwei Fällen, in denen Schüler „upskirtung photos“ von Lehrerinnen verbreitet hatten: Mit Handys hatten sie die Frauen unter dem Rock fotografiert und die Bilder im Internet veröffentlicht. Die betroffenen Lehrerinnen, beide Gewerkschafterinnen, machten dies öffentlich, wurden daraufhin von der Schulleitung ausgesperrt und erst auf Intervention der NASUWT wieder rehabilitiert.
Viele Lehrkräfte wechseln den Job
Das Bildungsministerium hat in den letzten Jahren das Schulbudget in einem Masse gekürzt, dass Lehrerinnen und Lehrer immer häufiger gezwungen sind, Unterrichtsmaterial selbst zu bezahlen und Eltern für Kopien, ja sogar Toilettenpapier zur Kasse gebeten werden. Besonders stark sind von den Kürzungen die nordirischen Schulen betroffen. Der Druck durch die Schulaufsicht und das Ranking der Schulen nach Testergebnissen ist ein weiterer Grund für die große Unzufriedenheit. Viele Delegierte berichteten von einer Zunahme psychischer Erkrankungen. Katastrophal für das ganze Bildungswesen ist, dass die Lehrkräfte oft nur kurze Zeit im Beruf bleiben. So wollen nach einer Untersuchung 18 Prozent aller Lehrerinnen und Lehrer in den nächsten zwei Jahren aus dem Beruf aussteigen, von den Schulleitungen und sogenannten „support teachers“ sind dies in den nächsten fünf Jahren 40 Prozent. Selbst von den Berufsanfänger*innen wollen 26 Prozent nach zwei Jahren ihren Beruf wechseln.
Private Agenturen vermitteln Vertretungskräfte
Intensiv diskutiert wurde von den Delegierten die Ausbeutung der „supply teachers“ (Vertretungslehrerinnen und -lehrer). Die Schulen sind bei Ausfall einer fest angestellten Lehrkraft verpflichtet, spätestens am dritten Tag eine Ersatzlehrkraft zu beschaffen. Diese werden nicht durch staatliche Schulbehörden, sondern über kommerzielle Agenturen an die Schulen vermittelt. Die Schule zahlt der Agentur 250£ pro Tag und Lehrkraft. Die vermittelte Lehrkraft erhielt davon 2010 noch 145 £, im Jahr 2018 jedoch nur noch 125 £. Als Leiharbeiterin und Leiharbeiter muss man sich selbst versichern, kann bestimmen, an welchen Wochentagen man arbeiten möchte und hat ständig wechselnde Einsatzorte. Der Staat hat sich völlig aus der Verantwortung genommen, stellt selbst keine „Lehrerfeuerwehr“ bereit und überlässt die Rekrutierung und Finanzierung ganz den Schulen. Erstaunlicherweise drehte sich die Diskussion nur um die immer schlechter werdende Bezahlung der Lehrkräfte. Das System als solches wurde nicht in Frage gestellt. Die Forderungen der NASUWT lassen sich so zusammenfassen: bessere finanzielle Ausstattung, geringere Arbeitszeiten, besserer Gesundheitsschutz, attraktivere Gehälter und Rücknahme der Erhöhung des Pensionsalters von 65 auf 68 Jahre.
BREXIT bedroht fragilen Frieden in Nordirland
Wie stark die Kürzungen im Bildungswesen auch mit den Einsparungen durch die BREXIT-Vorbereitungen zusammenhängen, wurde nur von einem nordirischen Delegierten angesprochen. Belfasts Bürgermeisterin Deirdre Hargey wies auf die Gefahr der Aufkündigung des „Good Friday Agreements“ hin, das vor zwei Jahrzehnten zum Waffenstillstand und einem Friedensabkommen zwischen der Republik Irland, Großbritannien und den Konfliktparteien in Nordirland geführt und im Schulbereich Frieden und Koexistenz zwischen protestantischen und katholischen Schulen gebracht hatte. Wie fragil der Frieden weiterhin ist, zeigte die Ermordung der Journalistin Lyra McKee am Gründonnerstag im rund 100 Kilometer entfernten Derry. Auch die ICTU Präsidentin Patricia King warnte vor katastrophalen Folgen des BREXIT für Nordirland und machte das „chaotic or no government in Westminster“, das Nordirland zum Spielball im Brexitstreit macht, für das Auftreten militanter Jugendlicher, die der IRA nahestehen, verantwortlich. Sie sieht hier eine besondere Verantwortung bei den Gewerkschaften. King sicherte den Schulen ihre volle Unterstützung bei der wichtigen Aufgabe zu, Jugendliche zu verantwortungsvollen „Iren, Briten, Bürgern“ zu erziehen.
Appel zu gewerkschaftlicher Einheit
Vor dem Kongresszentrum verteilte die Gruppe „UNIFY - One Union for All in Education“ ein Flugblatt, in dem sie alle britischen Gewerkschaften im Bildungsbereich aufforderte, sich zu einer einzigen, eine Million Mitglieder starken Bildungsgewerkschaft zusammenzuschließen. Nur so könne die Privatisierung und weitere Segregation im Bildungswesen gestoppt und umgekehrt werden. Als positives Beispiel wurde der Zusammenschluss der zwei Bildungsgewerkschaften NUT (National Union of Teachers) und ATL (Association of Teachers and Lecturers) zur NEU (National Education Union) im letzten Jahr genannt. Kevin Courtney, einer der beiden NEU Generalsekretäre (früher NUT), streckt in dem Flugblatt die Hand zur Vereinigung mit der NASUWT aus. Schade, dass diese Perspektive auf dem Kongress der NASUWT nicht thematisiert wurde.