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Bundestagswahl 2025

„Verzweifelter Zustand“

Ob Hochschule, Kita oder Schule – das öffentliche Bildungswesen ist seit Jahren chronisch unterfinanziert. Der Sanierungsstau ist vor allem bei der Infrastruktur und den Gebäuden groß.

Der Investitionsbedarf im Bildungssystem wird von Fachleuten auf mindestens 130 Milliarden Euro für die kommenden Jahre geschätzt. Ohne diese Finanzmittel droht der Systemkollaps. (Foto: IMAGO/photothek)

Krisenfall Hochschule

Die Technische Universität (TU) Berlin befinde sich „in einem verzweifelten Zustand“, heißt es in einem offenen Brief der Hochschule, der im Juli 2023 dem Berliner Senat übergeben wurde. Wasserrohrbruch im Chemie-Gebäude, defekte Labore, kaputte Haustechnik, selbst die Uni-eigene Stromversorgung ist sanierungsbedürftig. Der Investitionsstau an der traditionsreichen Hochschule – 32.000 Studierende, 7.200 Beschäftigte – betrage 2,4 Milliarden Euro. Immer wieder müssten Gebäudeteile kurzfristig gesperrt werden, beklagt Stefanie Nickel, Vorsitzende des Personalrats der TU Berlin. „Das ist mit hohem Umzugsaufwand, Frustration und dem Ausfall von Lehrveranstaltungen verbunden“, erklärt die 47-jährige Personalrätin. Hinzu kämen „massive Einschränkungen in Forschung und Verwaltung“. Als Ursache nennt sie die „finanzielle Misere des Landes Berlin“ sowie „jahrzehntelange Versäumnisse bei der Sanierungs- und Bauplanung“.

Licht am Ende des Tunnels ist für die Berliner Hochschulen nicht zu sehen. Der schwarz-rote Senat kündigte für das Haushaltsjahr 2025 an, im Bereich Wissenschaft 250 Millionen Euro zu streichen. „Man muss diese Kürzungen im Kontext eines konservativen Angriffs auf die soziale und progressive Infrastruktur sehen“, urteilt Gabriel Tiedje vom Allgemeinen Studierendenausschuss (AStA) der TU Berlin. Er befürchtet nicht nur katastrophale Auswirkungen auf die Qualität der Lehre. „Jobs für Studierende werden wegfallen, und die Betreuung der Studierenden wird schlechter“, erklärt Tiedje.

Krisenfall Kindertagesstätte

Hamburg-Eimsbüttel, Oberstraße 14b. Sitz der Elbkinder Vereinigung Hamburger Kitas gGmbH. Das gemeinnützige Unternehmen der Freien und Hansestadt Hamburg betreut 32.000 Mädchen und Jungen in 177 Kitas und im Ganztag an Schulen. Auch hier Sanierungsstau – und der belastet Kinder wie Beschäftigte gleichermaßen. „Sonnenschutz im Sommer ist ein großes Thema“, erklärt Marina Jachenholz, Vorsitzende des Betriebsrates. Ebenso das Raumklima. Auch fehle es in vielen Einrichtungen, mitunter in alten Villen untergebracht, an echtem Lärmschutz. „Das ist nicht gesundheitsfördernd.“ Die 61-Jährige betont: „Wir sind der Meinung, dass viele alte Kita-Gebäude nicht als Kita und somit auch nicht als Arbeitsstätte geeignet sind.“ Hinzu komme die gesetzlich vorgeschriebene energetische Sanierung, die „nicht ausfinanziert“ sei.

Außerdem: Die Geschäftsführung begann Anfang 2024, insgesamt 80 Stellen für pädagogisch Beschäftigte in den Kitas zu streichen – „aufgrund der finanziellen Schieflage der gGmbH“, erläutert Jachenholz. Für das verbleibende Fachpersonal bedeute das: „Jetzt haben wir noch mehr Tage, an denen wir unterbesetzt sind.“ Die entsprechenden Entscheidungen werden im Aufsichtsrat der gGmbH gefällt, dessen Vorsitzende ist die für Kitas zuständige Senatorin Melanie Schlotzhauer (SPD). Diese fahre einen strikten Kürzungskurs. „Oberste Prämisse des Senats ist die Wirtschaftlichkeit“, fasst Jachenholz zusammen.

Die Elbkinder sind der größte Kita-Träger in Hamburg. Auch wenn man es vielen Einrichtungen von außen nicht ansieht, ist der Sanierungsbedarf enorm. Viele ältere Gebäude sind nicht als Kita und somit auch nicht als Arbeitsstätte und Aufenthaltsort für Kinder geeignet. (Foto: Babette Brandenburg)
Provisorium als Dauerzustand: Der Unterricht im Gymnasium Römerhof in Frankfurt am Main findet seit mehr als sechs Jahren ausschließlich in Containern statt. Mit dem seit Jahren versprochenen Neubau ist immer noch nicht begonnen worden. (Foto: Matthias Holland-Letz)

Krisenfall Schulgebäude

„Es ist verdammt traurig, dass bei der Bildung so viel gekürzt wird“, sagt Rahel Sebhat, 44 Jahre, Mutter, aus Frankfurt am Main. „Wie lange müssen wir uns das noch bieten lassen?“ Ihre Tochter Elisa, 13 Jahre, besucht die 8. Klasse des Frankfurter Gymnasiums Römerhof. Die Schule, gegründet 2018, besteht bislang ausschließlich aus Stahlcontainern. Der Neubau ist seit Jahren versprochen, kommt aber nicht in Gang. Was die Schülerinnen und Schüler besonders belastet: Seit den Herbstferien können die Klassenzimmer nicht beheizt werden. Die Kinder sitzen mit Jacken im Unterricht und frieren. „Ich gebe meiner Tochter extra eine Skihose mit“, erklärt Sebhat. In jedem Containerraum steht nun ein kleiner, transportabler Heizlüfter. „Dadurch verschlechtert sich die Luftqualität“, sagt die 44-Jährige. „Und das ist schlecht für die Konzentration.“

Das zuständige Dezernat der Stadt Frankfurt erklärt auf Anfrage der E&W: Der Defekt an der Heizung sei seit Sommer bekannt. „Zwischenzeitlich wurden zwei Platinen und eine Pumpe ausgetauscht, was leider nicht zum gewünschten Erfolg geführt hat.“ Im November habe man festgestellt, dass zwei Kompressoren ausgetauscht werden müssen. „Diese Arbeiten sind beauftragt, und wir warten auf einen Ausführungstermin der beauftragten Firma.“ Das Gymnasium Römerhof im Stadtteil Bockenheim ist nicht die einzige Schule in Frankfurt, in der Kinder und Jugendliche nicht in einem ordentlichen Schulgebäude lernen können. In der Bankenmetropole gibt es sechs allgemeinbildende Schulen, die vollständig in Stahlcontainern untergebracht sind. Laut Presseberichten liegt der Investitionsstau an Frankfurter Schulen bei 2,5 Milliarden Euro.

Krisenfall Ganztagsschulen

Ab dem Schuljahr 2026/27 erhalten Eltern schrittweise einen Rechtsanspruch darauf, dass ihr Kind an der Grundschule einen Ganztagsplatz erhält. So will es ein Bundesgesetz – und die Kommunen haben große Mühe, die notwendige Infrastruktur bereitzustellen. Auch in Hückeswagen, einer Kleinstadt östlich von Düsseldorf im Bergischen Land, mit gut 15.000 Einwohnerinnen und Einwohnern. Die Fachwerkstadt ist verantwortlich für zwei Grundschulen und eine Förderschule mit Primarbereich.

Derzeit besuchen 261 Kinder den Offenen Ganztag in den drei Schulen. Wenn die Erweiterungsbauten fertig sind, will die Stadt 460 Plätze anbieten. Voraussichtliche Investitionskosten: zehn Millionen Euro. Das Land Nordrhein-Westfalen (NRW) beteiligt sich voraussichtlich mit 555.000 Euro. „Völlig unzureichend“, urteilt Bürgermeister Dietmar Persian (parteilos). Er teile die Auffassung, „dass der Bund auch in diesem Bereich den Kommunen eine neue Pflichtaufgabe überträgt, aber die Finanzierung nicht sicherstellt“. Ohnehin stünden die Kommunen finanziell mit dem Rücken an der Wand, erklärt Persian. „Das Thema trägt dazu bei, dass wir keine eigenen Handlungsmöglichkeiten mehr haben.“

Krisenfall Schulsozialarbeit

Senftenberg im südlichen Brandenburg, 23.000 Menschen leben hier. „Hilferuf aus der Multikulti-Schule“, titelte die Lausitzer Rundschau im April 2024. Die Regenbogen-Grundschule in Senftenberg, an der Kinder aus 16 Nationen lernen, benötige dringend eine weitere Stelle für Sozialarbeit. 395 Schülerinnen und Schüler besuchen die Klassen 1 bis 6. Bei 11 Prozent sei „besonderer Förderbedarf“ festgestellt worden, teilt die Stadt Senftenberg mit. Es gebe soziale Spannungen, psychische Auffälligkeiten und Defizite im sozialen Miteinander. „Die Probleme mit Schülern nehmen zu“, warnte die stellvertretende Schulleiterin Manuela Kühne bereits im November 2023. Bislang gibt es an allen vier Grundschulstandorten im Ort je eine Stelle für Schulsozialarbeit – finanziert von der Stadt als freiwillige Leistung. Senftenberg würde gerne zusätzliche Schulsozialarbeiterinnen und -arbeiter einstellen. Doch der Stadt fehlen die Mittel. „Wir brauchen bei der Finanzierung dringend Hilfe vom Land Brandenburg“, erklärt Bürgermeister Andreas Pfeiffer (CDU). Diese Hilfe bleibt bislang aus.

„In den Grundschulen treffen die Kolleginnen und Kollegen auf immer mehr Kinder, die nur unzureichend schulfähig sind.“ (Volker Kugel)

„Die psychischen Belastungen Jugendlicher haben zugenommen“, betont auch Volker Kugel, beim SOS-Kinderdorf e. V. in Kaiserslautern zuständig für Schulsozialarbeit. „In den Grundschulen treffen die Kolleginnen und Kollegen auf immer mehr Kinder, die nur unzureichend schulfähig sind“, ergänzt der 60-Jährige. Das SOS-Kinderdorf Kaiserslautern beschäftigt 17 Schulsozialarbeiterinnen und -arbeiter, die an zwölf Schulen aktiv sind. Und die berichten laut Kugel immer wieder von Überforderung und Überlastung. Oft sei nur eine Kollegin oder ein Kollege an einer Schule tätig, der Austausch untereinander fehle.

Auch andernorts wird die Forderung laut, zusätzliche Stellen zu schaffen. In Baden-Württemberg gab es laut Statistik für 2022 an den landesweit 4.500 Schulen lediglich 1.877 Stellen für Schulsozialarbeit. Der GEW-Landesverband im südwestlichen Bundesland dringt denn auch darauf, dass die Schulsozialarbeit „flächendeckend ausgebaut“ und „zuverlässig“ durch das Land mitfinanziert werde. Auch gelte es, Schulsozialarbeiterinnen und -arbeiter tarifgerecht einzugruppieren.

Krisenfall Startchancen-Programm

Bund und Länder planen im Rahmen des Startchancen-Programms, 20 Milliarden Euro innerhalb der nächsten zehn Jahre bereitzustellen – zugunsten von 4.000 Schulen mit besonders hohem Anteil sozial benachteiligter Schülerinnen und Schüler. Ein Schritt in die richtige Richtung, urteilt die GEW. Doch das Geld erreicht lediglich 10 Prozent aller Schulen. Unterstützungsbedarf haben laut Gewerkschaft aber 20 Prozent aller Schulen. Die GEW-Vorsitzende Maike Finnern kritisiert zudem, dass die Laufzeit mit zehn Jahren „viel zu kurz“ sei. Auch rechneten einige Bundesländer ihren Finanzierungsanteil klein, indem sie bestehende Förderprogramme als Beitrag zum Startchancen-Programm deklarieren. Die GEW setzt sich dafür ein, dass die Mittel aus einem „Sondervermögen Bildung„“, das die Gewerkschaft vorschlägt, vor allem jenen zugutekommen, die arm und sozial benachteiligt sind.

 „Das Kooperationsverbot muss weg. Wir brauchen ein Kooperationsgebot.“ (Maike Finnern) 

Dies lässt sich mit einem Verteilungsschlüssel erreichen, der auf dem „Multiplen Benachteiligungsindex“ (MBI) basiert. Entwickelt im Auftrag der GEW, berücksichtigt der MBI Faktoren wie die Wirtschafts- und Finanzkraft des Bundeslandes, den Bildungsstand der Bevölkerung und den Anteil an Menschen mit Migrationshintergrund. Ein großes Hindernis für die Generalsanierung des Bildungswesens sei zudem das Kooperationsverbot, das die Zusammenarbeit von Bund und Ländern im Bildungssektor erschwert. „Das Kooperationsverbot muss weg“, erklärt Finnern. „Wir brauchen ein Kooperationsgebot.“