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Ukraine-Krieg

Vertrautheit und Schutz anbieten

Mehr als 100.000 Schülerinnen und Schüler aus der Ukraine sind bis Mitte Mai in Deutschland angekommen. An zwei Berliner Schulen werden sie mit offenen Armen empfangen – und ganz unterschiedlich unterrichtet.

Wie sollen Kinder und Jugendliche aus der Ukraine an deutschen Schulen integriert werden? (Foto: IMAGO/Fotostand)

Die russische Invasion hatte gerade erst begonnen, als sich Eltern bei Judith Bauch meldeten: „Bei uns lebt eine ukrainische Familie, können die Kinder zu Ihnen kommen?“ Der Leiterin der Wilhelm-von-Humboldt--Gemeinschaftsschule stellte sich eine ihr und anderen Schulleiterinnen und Schulleitern wohlbekannte Frage: Wohin mit den Kindern? Platz war an der enorm beliebten Schule in Berlin-Prenzlauer Berg nur in einem Teilungsraum; bereits zuvor arbeitete hier eine kleine Willkommenslerngruppe.

Seit März lernt dort zwei Stunden täglich eine weitere Gruppe, elf Schülerinnen und Schüler aus der Ukraine zwischen neun und 16 Jahren. Eine ukrainischstämmige Lehrerin, die just aus dem Mutterschutz zurück war, hilft den Kindern und Jugendlichen, anzukommen und die deutsche Sprache zu erlernen – „ein absoluter Glücksfall“, sagt Bauch. In den weiteren Stunden lernen sie zusammen mit allen anderen Schülerinnen und Schülern in jahrgangsübergreifenden Lerngruppen; Klassen gibt es an der Schule nicht. Die Mischform, betont die Schulleiterin, sei nicht der Raumnot geschuldet: „Wir wollen Vielfalt leben“, erklärt sie, „dazu gehört der intensive Austausch.“

„Wir ermöglichen, was wir können. Denn wie sollen wir oder die Schülerinnen und Schüler wissen, wie ihr Leben weitergeht?“ (Hans Steinke)

Am Willi-Graf-Gymnasium in Berlin-Lichterfelde stand im Februar der Schülersprecher im Büro des Schulleiters und fragte: Was können wir tun? Hans Steinke stellte mit Lehrkräften, Schülerschaft, Sozialarbeit und Förderverein einen Arbeitskreis zusammen. So entstanden eine umfangreiche Spendenaktion und der Entschluss: Wir rücken zusammen; denn freie Räume gab es auch am Willi-Graf-Gymnasium nicht.

Dort arbeitet jetzt eine Willkommensklasse nach einem ganz anderen Modell als im Prenzlauer Berg: Vormittags lernen die Schülerinnen und Schüler ab 16 Jahren mit einer – ebenfalls geflüchteten – Lehrkraft Deutsch. Nachmittags bereiten sie sich privat auf das ukrainische Abitur vor. Schulleiter Steinke: „Wir ermöglichen, was wir können. Denn wie sollen wir oder die Schülerinnen und Schüler wissen, wie ihr Leben weitergeht?“ Die ersten, die im Februar kamen, das hört man in Berlin immer wieder, sind schon wieder zurück in der Ukraine.

Quadratur des Kreises

An den Willkommensklassen wird allerdings auch Kritik laut; unter anderen sprachen sich Ende März Experten der Kultusministerkonferenz (KMK) gegen dieses Modell an den Grundschulen aus. „Sprachenlernen ist für alle, die nicht sehr jung sind, ein kognitiver Vorgang“, erklärt dagegen Maja Lasić, „es braucht Zeit, Anleitung, Unterricht.“ Lasić, die jüngst ihre Rolle als bildungspolitische Sprecherin der SPD im Berliner Abgeordnetenhaus gegen die einer Sekundarschullehrerin eintauschte, ist aus Erfahrung firm: Als 14-Jährige floh sie 1992 vor dem Bosnien-Krieg aus Mostar nach Bonn. Das Lernen mit Gleichaltrigen in einer ähnlichen Lage habe Vertrautheit und einen Schutzraum geboten, erzählt sie: „Der Wechsel in die Regelklasse hat es später ohnehin in sich.“

Zudem illustrieren die Beispiele, vor welch einer Quadratur des Kreises die Schulen stehen, die bundesweit bis Anfang Mai mehr als 90.000 Kinder und Jugendliche aus der Ukraine aufgenommen hatten: Denn auch laut den Empfehlungen der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission der KMK sollen sie im Grunde alles zugleich fördern: den „Erwerb der Bildungssprache Deutsch und die baldige Integration in den Fachunterricht“ ebenso wie die „Ermöglichung der Beschulung und von Prüfungen auf der Grundlage der ukrainischen Curricula“ für jene, die in ihrem Heimatland kurz vor dem Schulabschluss standen. Die ukrainische Generalkonsulin Iryna Tybinka forderte bei einem Besuch der KMK im März sogar, die Schülerinnen und Schüler in Deutschland generell nach ukrainischen Lehrplänen zu unterrichten.

„Aus meiner Bonner Klasse lebt heute höchstens jeder Zweite wieder in Bosnien.“  (Maja Lasić)

Das rief bei Lasić deutlichen Protest hervor: Bei allem Verständnis dafür, den Kontakt zur Ukraine nicht verlieren zu wollen, forderte sie deutsche Bildungspolitiker zu Realismus auf. „Mit jedem Jahr werden sich mehr Menschen fragen, ob ihre Zukunft doch eher in Deutschland liegt“, erklärte Lasić. Sie erinnerte ein weiteres Mal an die 1990er-Jahre: Auch Hunderttausende bosnische Flüchtlinge hätten zunächst die baldige Rückkehr im Blick gehabt: „Doch als sich die Lage beruhigte, war viel geschehen; drei, vier Jahre können die Perspektive völlig verändern“, so die Lehrerin. Und: „Aus meiner Bonner Klasse lebt heute höchstens jeder Zweite wieder in Bosnien.“