Projekt Study Friends
Vertraute Lernbegleitung
In Bremen unterstützen Studierende Schülerinnen und Schüler beim Lernen und dürfen dafür mietfrei wohnen. Weil die ersten Erfahrungen positiv sind, wird das Projekt Study Friends nun ausgeweitet.
Wann wurde das Grundgesetz verkündet? Wie ist es entstanden? Was sind seine wesentlichen Bestandteile? Marvin (14) hat gerade einen Text zum 75. Geburtstag der bundesdeutschen Verfassung gelesen und sitzt nun vor der Aufgabe, einige Fragen dazu zu beantworten. Was ihm nicht so leichtfällt. Gut, dass Sargis Poghosyan in der Nähe ist und zu Hilfe kommt. Der 28-jährige Germanistikstudent ist heute als unterstützende Kraft in der Klasse 7d der Neuen Oberschule Gröpelingen in Bremen – so wie jeden Mittwoch. Als einer von fünf Study Friends an der Schule steht der gebürtige Armenier den Schülerinnen und Schülern fünf Stunden pro Woche beim Lernen zur Seite. Im Gegenzug darf er im Stadtteil mietfrei wohnen. Während er sich mit einem weiteren Study Friend eine Zweier-Wohnung teilt, sind die übrigen drei in einer Dreier-WG untergekommen.
„Als das Projekt vor drei Jahren losging, habe ich gerade eine Wohnung gesucht“, erinnert sich Poghosyan. „Weil ich gerne anderen helfe, Dinge erkläre und außerdem gut mit Kindern kann, habe ich gedacht: Das lässt sich doch super miteinander kombinieren.“ Das mietfreie Wohnen sei anfangs ein wesentlicher Impuls für ihn gewesen, sagt er. „Fühlte ich mich hier unwohl und hätte keinen guten Kontakt zu den Kindern und den Lehrkräften, würde ich nicht weitermachen.“ So organisierte er sich den Mittwoch an der Uni frei, um an der Neuen Oberschule im Einsatz sein zu können. „Seine“ Schülerinnen und Schüler der 7d begleitet er schon, seit diese als Fünftklässler an der Schule gestartet sind. Ein großer Vorteil, wie er meint: „Mit der Zeit entsteht eine engere Bindung. Manche Kinder vertrauen sich mir inzwischen auch mit privaten Themen an. Und wenn sie fachliche Fragen haben, fällt es ihnen oft leichter, mich zu fragen als eine Lehrkraft.“
Entlastung für Lehrkräfte
In der ersten Stunde steht an diesem Tag Arbeitsplan (AP) auf dem Stundenplan. Das bedeutet: Die Schülerinnen und Schüler bestimmen eigenständig ihr Arbeitstempo und ihren Lernrhythmus. Sie entscheiden selbst, wann sie welche Aufgaben bearbeiten. Während Marvin sich für Deutsch mit dem Grundgesetz befasst, sitzt Christopher gerade an seinen Mathe-Aufgaben. Und auch er benötigt Hilfe – die er umgehend bekommt. „Herr Poghosyan ist sehr nett und kann gut erklären“, sagt der 13-Jährige. „Er ist nicht so streng, das gefällt mir.“ Marvin sieht das ähnlich. „Ich finde es gut, dass er da ist. Es macht Spaß, mit ihm zu arbeiten.“
Was bei den Kindern und Jugendlichen neben der Präsenz im Unterricht außerdem gut ankommt: Die Study Friends stehen auch in den Sommerferien zur Verfügung und machen Ausflüge mit denjenigen, die nicht in Urlaub fahren können. „Wir haben schon Graffiti gemacht, waren Eis essen, in der Universität und im Bürgerpark“, erzählt Marvin. „Das war toll.“
Junge Menschen aus einem benachteiligten sozialen Umfeld unterstützen, ihnen bei den Hausaufgaben helfen, Freunde und Vorbilder für sie sein: Das sind Kernziele des Projekts Study Friends, das 2021 in Bremen gestartet ist und erfolgreiche Vorläufer in Nordrhein-Westfalen und Bremerhaven hat. „Wichtig war damals der Grundgedanke, dass wir an einer Schule beginnen, die entsprechende Bedarfe hat“, erläutert Schulleiterin Martina Semmler. „Und wir haben hier bei uns tatsächlich einen großen Bedarf an Lernbegleitung.“ Dass der Stadtteil Gröpelingen genau der richtige Startpunkt für ein solches Projekt war, zeigt unter anderem die Tatsache, dass hier im Vergleich mit anderen Bremer Stadtteilen der größte Anteil von Kindern mit nicht-deutscher Muttersprache lebt (66 Prozent).
Vorbild und Begleitung
„Die Study Friends sind auf keinen Fall Hilfs- oder Vertretungslehrkräfte“, betont Semmler. „Sie sind zusätzliche Kräfte, die wir so einsetzen, dass sie von den Schülerinnen und Schülern als Freunde wahrgenommen werden und von den Lehrkräften als Begleitung.“ Von Anfang an sei es das Ziel gewesen, dass die Projektteilnehmenden im Stadtteil leben. Damit werde sichtbar, dass es im Quartier auch Studierende gebe, erläutert die Schulleiterin. „Vier unserer fünf Study Friends haben selbst einen Migrationshintergrund und sind so lebende Beispiele dafür, dass es sich lohnt zu lernen.“
Sie seien gut in die Jahrgangteams integriert und fühlten sich als gleichberechtigter Teil der Schulgemeinde. Einziger Wermutstropfen: Bisher haben sich noch keine Lehramtsstudierenden beworben. Was fachlich aber auch nicht zwingend erforderlich sei, meint Semmler. „Oft reicht es schon, die Aufgaben mit eigenen Worten in Schülersprache wiederzugeben und in Ruhe zu erklären, worum es geht.“
GEW: „Kreative Notlösung“
Aufgrund der bisher durchweg positiven Erfahrungen wird das Projekt seit Anfang des Jahres ausgeweitet. Aktuell sind fünf weitere Study Friends an zwei zusätzlichen Schulen in Gröpelingen eingestiegen, bis zum Wintersemester 2024/25 sollen insgesamt 17 Studierende an allen Schulen im Stadtteil im Einsatz sein. Geplant ist darüber hinaus, zeitnah auch eine Schule im Bremer Norden mit einzubinden. Insgesamt vier Wohnungsbaugesellschaften stellen grundmietfrei Wohnungen zur Verfügung, die Deutsche Kindergeldstiftung unterstützt die Studierenden bei der Finanzierung der Nebenkosten. Die Projektkoordination hat der Verein Naturkultur übernommen, der sich für den interkulturellen Austausch junger Menschen einsetzt. Dafür finanziert die Bremer Senatorin für Kinder und Bildung über das Startchancen-Programm eine Stelle.
„Noch wichtiger ist es aber, den Lehrkräftemangel zu beseitigen, damit solche Projekte gar nicht erst benötigt werden.“ (Ramona Seeger)
Ramona Seeger, Sprecherin der GEW Bremen, hält das Projekt für eine „kreative Notlösung“, die vorübergehend durchaus gewinnbringend sein könne. „Für die Schülerinnen und Schüler kann es belebend und fördernd sein, wenn sie unterschiedliche Ansprachen und Unterstützung zum Beispiel bei den Hausaufgaben bekommen“, meint sie. „Noch wichtiger ist es aber, den Lehrkräftemangel zu beseitigen, damit solche Projekte gar nicht erst benötigt werden.“ Entscheidend sei, dass die Study Friends keinen regulären Unterricht übernähmen. Und auch keine Aufgaben, die in den Bereich Sonderpädagogik oder Sozialarbeit fielen. „Das hat nicht nur mit fehlenden Kompetenzen zu tun, sondern auch mit den Belastungen, die damit verbunden sind“, macht sie deutlich. „Im Vordergrund muss darum immer stehen, dass genügend Fachpersonal da ist.“