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Systemsprenger

„Verstehen ist ganz wichtig“

Der Film „Systemsprenger“ erzählt von der neunjährigen Benni, die als Baby traumatisiert wurde und mit ihren wiederkehrenden Gewaltattacken nicht zu bändigen ist. Experte Thomas Ziegler erklärt, wie nah der Film an der Realität ist.

Foto: Yunus Roy Imer/Port au Prince Pictures

Nora Fingscheidts Film Systemsprenger machte bei der Berlinale 2019 gewaltig Furore und gewann den Silbernen Bären (Alfred-Bauer-Preis). Der emotional wuchtige Film erzählt von der neunjährigen Benni, die als Baby traumatisiert wurde und mit ihren immer wiederkehrenden Gewaltattacken nicht mehr zu bändigen ist. Zu Hause kann sie nicht bleiben, ihre Mutter hat Angst vor ihr, und aus allen Wohngruppen fliegt sie nach kurzer Zeit wieder raus. Da taucht ein neuer Betreuer auf: Micha, der eine Idee hat. Der Film wurde als deutscher Beitrag ins Oscar-Rennen um den besten fremdsprachigen Film geschickt, schaffte die Nominierung aber letztlich nicht. Die DVD erscheint am 20. Februar. Im Interview erzählt Thomas Ziegler vom Bundesverband Individual- und Erlebnispädagogik, wie nah der Film an der Realität ist.

  • E&W: Herr Ziegler, Sie haben den Film „Systemsprenger“ kürzlich zum zweiten Mal gesehen. Was war Ihr Eindruck?

Thomas Ziegler: Das ist ein Film, der der Gesellschaft vielleicht einmal zeigt, was es alles für Problemlagen in unserem Land gibt.

  • E&W: Was ist eigentlich ein Systemsprenger?

Ziegler: Ich mag das Wort nicht, aber der Systemsprenger ist eine Person, die sich schwer tut, sich in vorgegebenen Systemen zurechtzufinden, und die mit ihrem Verhalten aneckt. Im Film ist gut dargestellt, dass das Kind eigentlich Angst vor der Schule hat, weil es selbst merkt, dass es mit dem System nicht zurechtkommt. Für diese hochtraumatisierten Kinder ist die Schule einfach der falsche Ort, die müssen anders zu Schulbildung kommen.

  • E&W: Gibt es da schon Modelle?

Ziegler: Es gibt viele Modelle, die hier unterstützend arbeiten. Es gibt vereinzelt heiminterne Schulen, die auf diese Kinder spezialisiert sind, die gehen im Zweifelsfall bis zur Eins-zu-Eins-Beschulung. Möglich sind auch Fernschulen. Das funktioniert in Auslandsmaßnahmen ganz gut.

  • E&W: Auf Provokationen anderer Kinder findet die Figur der Benni in dem Film keine andere Antwort als Gewalt. Ist das typisch?

Ziegler: Es gibt auch Kinder, die eher depressiv reagieren, sich komplett verweigern und in der Schule kein Wort mehr sprechen. Und dann gibt es diejenigen, die ihren Kummer mit Aggressionen beantworten und bei bestimmten Triggern ein Verhalten zeigen, das gefährdend wird für andere Menschen.

  • E&W: Wie Benni. Halten Sie den Film für realistisch?

Ziegler: Ich fand ihn sehr realistisch. Ich war überrascht, wie gut die Situationen dargestellt wurden und wie gut die Schauspieler das umgesetzt haben.

  • E&W: Die Betreuer im Film wirken alle besonnen und empathisch – und scheitern trotzdem. Warum?

Ziegler: Der beste Pädagoge allein mit mehreren Kindern in der Gruppe hat nicht die Zeit für eine Systemsprengern gemäße Betreuung. Der Film zeigt: In der Eins-zu-Eins-Betreuung im Wald hat das Kind die volle Aufmerksamkeit und kann das Leben ein bisschen genießen.

  • E&W: Die Maßnahme im Wald hat funktioniert: Müsste die dann nicht verstetigt werden? Stattdessen ist nach den drei Wochen im Wald die nächste Krise da.

Ziegler: Völlig richtig. Diese Betreuungsform wird auch in Deutschland erfolgreich angewandt, aber Personal dafür zu finden, ist sehr schwierig. Man braucht Menschen, die bereit sind, sehr viel Lebenszeit zu opfern.

  • E&W: Was wäre die Lösung?

Ziegler: Benni wünscht sich ja nichts sehnlicher als wieder zurück zur Mutter zu kommen. Vielleicht könnte man hier mit einer Einzelbetreuung in der Familie so viel Stabilität reinbringen, dass Benni wieder zu Hause leben kann.

  • E&W: Was halten Sie von der Figur des Betreuers Micha?

Ziegler: Ich finde, der ist gut dargestellt, einer der sein Leben selbst gut geordnet hat und dann versucht, Menschen zu helfen, die in schwierigen Situationen sind. Er hat eine klare Haltung und kann Benni so Halt geben. Natürlich gab es Problemsituationen, die bei solchen Kindern immer wieder auftauchen.

  • E&W: Ist es denn realistisch, dass man einen Mann mit einem neunjährigen Mädchen drei Wochen lang alleine in den Wald schickt?

Ziegler: Das kann ich mir eher nicht vorstellen. Eine Frau wäre realistischer gewesen. Vermutlich wollte die Regisseurin diese starke Figur des Micha, aber in der Realität würde man die Betreuer hier schützen; das war ja auch im Film eine prekäre Situation, als Benni zu ihm ins Bett schlüpft.

  • E&W: Macht Micha auch was falsch?

Ziegler: Nein, der macht gar nichts falsch. Man weiß bei diesen Kindern nie, welche Trigger sie haben. Auch die Situation, als er Benni den Waschlappen an den Kopf schmeißt: Das ist kein Fehler, das ist menschlich und passiert.

  • E&W: Auch nicht, als er sich überreden lässt, sie mit nach Hause zu nehmen?

Ziegler: Nein, da schützt er sie. Sie ist in der Situation extrem selbstverletzend und schlägt den Kopf gegen die Seitenscheibe des Autos. Hätte er sie nicht mit zu sich genommen, wäre sie wieder in die Psychiatrie gekommen, dort ruhiggestellt worden und die eben aufgebaute Beziehung zum Betreuer wäre zerstört.

  • E&W: War diese neue Krise programmiert?

Ziegler: Ja, absolut. Ich glaube auch, dass das Micha bewusst war, nur das Ausmaß war ihm nicht klar. Aber wenn es eine Pflegefamilie für sie gegeben hätte, hätte die Stabilisierung mit der Maßnahme im Wald ja funktionieren können.

  • E&W: Benni ist, wenn sie gerade nicht austickt, ungemein reizend und sympathisch. Ist auch das realistisch?

Ziegler: Ja, natürlich. Sie kann lieb sein, und man kann auch Spaß haben – wie während der Autofahrten, bei denen sie Musik hören und zusammen singen. Jeder Systemsprenger ist ein ganz normales Kind bis auf bestimmte äußere Faktoren, die dazu führen, dass es Verhaltensweisen zeigt, die die Gesellschaft schockieren. Aber wenn man hört, dass Benni als Baby Windeln ins Gesicht gedrückt bekam, weiß man, dass ihr Verhalten einen Grund hat.

  • E&W: Bei Benni ist klar: frühkindliches Trauma, aber welche Ursachen gibt es noch, dass ein Kind zum Systemsprenger wird?

Ziegler: Neben Traumata ist das oft auch ein Nichtverstehen von Krankheitsbildern. Autisten zum Beispiel tauchen auch immer wieder in der Jugendhilfe auf, weil sie bestimmte Verhaltensweisen zeigen. Verstehen ist ganz wichtig, damit man den Kindern gerecht werden kann. Aber dafür braucht es Zeit und genaues Hinschauen: Wo ist die Problemlage der Kinder? Aber diese Zeit ist nicht immer vorhanden.

  • E&W: Was würden Sie mit Benni tun?

Ziegler: Was ich spannend fand, war, dass sie in der Natur runterfahren konnte. Solche Maßnahmen gibt es ja, zum Beispiel einen Bauernhof mit Einzelbetreuung, ein Helferteam mit drei Menschen, die sich abwechseln, dann kann man mit Kindern wie Benni weiterkommen und sie in ihrer Entwicklung fördern. Das hätte ich mir für sie gewünscht. Für diese Kinder und Jugendlichen ist es gut, wenn sie zunächst nicht mit Gleichaltrigen zusammen sind. Sie müssen sich erst mal selbst kennenlernen, auch in schwierigen Situationen, um dann besser auf ihre Trigger reagieren zu können.

  • E&W: Was halten Sie davon, dass sie am Ende nach Kenia geschickt wird?

Ziegler: Das ist ein bisschen übertrieben. Sie nur ins Ausland zu schicken, weil da gerade ein Platz frei ist, halte ich nicht für richtig. Deshalb hat es mich gefreut, dass sie abgehauen ist.

  • E&W: Können Kinder wie Benni später ein Alltagsleben gut bewältigen?

Ziegler: Ja, davon bin ich überzeugt. Wenn sie es schafft, ihre Trigger zu verstehen und zu begreifen, dass die der Grund für ihre Schwierigkeiten sind, dann kann sie ein ganz normales Leben führen.

Thomas Ziegler, Mitglied des geschäftsführenden Vorstands des Bundesverbandes der Individual- und Erlebnispädagogik