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Radikalenerlasses

„Verhärtung und Frontenbildung“

In den 1970er-Jahren verloren aufgrund des Radikalenerlasses von ´72 viele Lehrkräfte und im Bildungssektor Beschäftigte ihre Anstellung. Die DGB-Gewerkschaften folgten dieser politischen Vorgabe mit Unvereinbarkeitsbeschlüssen.

1972 sollte mit dem „Radikalenerlass“ sichergestellt werden, dass keine „Verfassungsfeinde“ im öffentlichen Dienst arbeiten. Betroffen waren überwiegend Linke. Besonders Lehrerinnen und Lehrer wurden mit einem Berufsverbot belegt. (Foto: picture alliance/Klaus Rose)

Welche Folgen dies für die Betroffenen hatte, hat die Historikerin Alexandra Jaeger am Beispiel der GEW Hamburg untersucht.

  • E&W: Frau Jaeger, wir erleben heute eine starke Polarisierung der Gesellschaft, auch der Begriff „Berufsverbot“ taucht in Debatten wieder auf. Nehmen Sie uns mal mit in die Siebzigerjahre – wie waren damals die Streitlinien?

Alexandra Jaeger: Natürlich gibt es Überschneidungen zu aktuellen Debatten, aber es herrschte doch eine historisch spezifische Konfiguration. Der Kalte Krieg spielte eine Rolle, dazu kam ab 1967 die Studierendenbewegung im Westen, in deren Folge junge Menschen sich linken und linksradikalen Gruppen wie der DKP, die von der DDR finanziert wurde, und maoistischen K-Gruppen zuwandten. Sprich, es gab in den 1970er-Jahren vielfältige Umbrüche, Debatten über Liberalisierung und die Frage der Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze. Die SPD-FDP-Regierung unter Kanzler Willy Brandt wollte „mehr Demokratie wagen“, das führte zu Debatten auch um eine Demokratisierung und Erneuerung im Bildungssystem.

  • E&W: Wen trafen die Berufsverbote?

Jaeger: Menschen an Hochschulen, die sich der DKP und K-Gruppen angeschlossen hatten. Brandt und die Ministerpräsidenten der Länder sandten mit dem Beschluss von 1972 ein Signal an diese Menschen, dass sie nicht in den öffentlichen Dienst eingestellt werden. Da viele von ihnen eine Karriere im Bildungsbereich wie Schule oder Sozialarbeit anstrebten, konnte das das Ende des geplanten Berufswegs bedeuten. Formal wandte sich das Verbot gegen Rechts und Links, aber es war klar, dass es den Marsch der Linken durch die Institutionen verhindern sollte.

  • E&W: Die GEW Hamburg hat als erster Landesverband Unvereinbarkeitsbeschlüsse gefasst und Menschen ausgeschlossen oder gar nicht erst aufgenommen, die bestimmten Gruppen angehörten. Warum gerade Hamburg?

Jaeger: Insgesamt gab es in der GEW ähnliche Konflikte wie im Rest der Gesellschaft, allein durch die Jüngeren, die vor allem an Uni-Standorten in die Gewerkschaft eintraten. Diese Konflikte spitzten sich seit Anfang der 1970er-Jahre zu. Zudem wuchs durch den Radikalenerlass der Druck auf die GEW, sich als verfassungstreu zu präsentieren. In Hamburg war der Auslöser der Streit um zwei Referendarsprecher, die wegen eines Flugblatts vom Schuldienst suspendiert worden waren, in dem sie Regierungspolitiker als „volksfeindlich“ tituliert hatten. Der Vorstand schloss sie wegen gewerkschaftsschädigenden Verhaltens aus, doch die Vertrauensleuteversammlung nahm diese Entscheidung mit knapper Mehrheit zurück. Deshalb ging der Vorstand das Thema grundsätzlicher an und beschloss die Unvereinbarkeit mit mehreren K-Gruppen.

  • E&W: In der Satzung der GEW Hamburg stand, dass die Aufnahme ohne Rücksicht auf Parteizugehörigkeit erfolgt. Das ist ein Widerspruch.

Jaeger: Tatsächlich hatte es in Hamburg lange den Anspruch gegeben, Menschen nicht allein wegen Parteimitgliedschaften auszuschließen. Gerade Jüngere waren gegen die Beschlüsse, aber der GEW-Vorstand wurde unter Druck gesetzt, teils von außen, teils von älteren Mitgliedern, die eine Abgrenzung von den jungen Kommunistinnen und Kommunisten wollten. Bei der entscheidenden Mitgliederversammlung im April 1974 erhielt der Vorstand, wenn auch knapp, eine Mehrheit für den Unvereinbarkeitsbeschluss. Der DGB hatte bereits im Herbst 1973 einen entsprechenden Beschluss gefasst. Ausgehend von Hamburg setzte sich die Praxis auch in der GEW durch. In der Bundessatzung forderte die GEW von ihren Neumitgliedern ein Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Ein Gewerkschaftstag beschloss, dass diese Bundessatzung in allen Landesverbänden verbindlich wurde.

  • E&W: Kommunist oder Radikaler – wie umstürzlerisch waren die Positionen dieser so bezeichneten GEW-Mitglieder tatsächlich?

Jaeger: Die Gruppen selbst waren mindestens verbal radikal und riefen zum Teil zum Staatsumsturz oder zur „Volksbewaffnung“ auf. Die Zeit war geprägt von der Suche nach Alternativen und Utopien. Viele Menschen traten einer Gruppe bei und blieben ein, zwei Jahre, wobei schwer zu sagen ist, wie sehr sie sich mit den Zielen und Inhalten identifizierten. Der Begriff „Radikale“ war zudem unscharf. Außerhalb der GEW waren etwa auch DKP-Mitglieder von Berufsverboten betroffen, innerhalb der GEW trafen die Unvereinbarkeitsbeschlüsse nur Mitglieder von K-Gruppen.

  • E&W: War es für überzeugte Kommunistinnen und Kommunisten denn überhaupt schlimm, aus der damals als spießig und staatstragend geltenden Gewerkschaft geworfen zu werden?

Jaeger: Wer sich als Berufsrevolutionär empfunden hat, für den war es vielleicht kein großer Einschnitt, aber es gab auch jene, für die es hart war. Eine Betroffene war alleinerziehend und konnte wegen des Radikalenerlasses den Beruf als Lehrerin nicht ausüben. Die GEW versagte ihr den Rechtsschutz. In einem anderen Fall hatte sich der Betreffende von der Gruppe bereits getrennt, er wurde als Lehrer eingestellt, aber die Gewerkschaft wollte ihn trotzdem ausschließen. Das Verfahren hatte zudem eine Eigendynamik entwickelt – mit Folgen, die die Handelnden nicht vorhergesehen hatten. So wurden auch Menschen ausgeschlossen, die nur auf einer Liste für ein Studierendenparlament kandidiert hatten. Als gewerkschaftsschädigend galt es bereits, wenn eine GEW-Gliederung ein ausgeschlossenes Mitglied von einer GEW-Veranstaltung nicht ausschloss. Es entstand ein Klima des Misstrauens, eine Verhärtung und Frontenbildung. Gegen diese Stimmung wehrten sich viele jüngere Mitglieder, auch wenn sie K-Gruppen kritisch sahen. Sie wollten den Konflikt politisch und nicht administrativ lösen.

  • E&W: Sie hatten Kontakt zu Zeitzeugen. Einer beschreibt seinen Ausschluss als Fallbeil und war menschlich enttäuscht von handelnden Personen, etwa dem Hamburger Vorsitzenden Dieter Wunder. Haben die Betroffenen ihren Frieden mit der GEW gemacht?

Jaeger: Der genannte Betroffene war besonders enttäuscht, weil Wunder sein Lehrer gewesen war, den er als links und engagiert erlebt hatte. Er sieht heute aber auch den Druck, dem Wunder als Landesvorsitzender ausgesetzt war. Es gibt einige, für die der Ausschluss heute keine Rolle mehr spielt, für andere durchaus. Die GEW Hamburg hat nun Entschuldigungsschreiben verschickt und bietet den damals Ausgeschlossenen eine „Anerkennungspauschale“ sowie eine kostenfreie Mitgliedschaft an, das war für einige als Symbol sehr wichtig.

Alexandra Jaeger (Foto: Maike Raap)