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70 Jahre Grundgesetz

Unverzichtbar

Das Grundgesetz wird 70 Jahre alt. Es ist die Grundlage des Staates, aber auch des Zusammenlebens der Gesellschaft. E&W hat bei Prominenten nachgefragt, was das Grundgesetz für sie bedeutet.

  • Prof. Heribert Prantl, Publizist und ständiger -Kolumnist der „Süddeutschen Zeitung“: „Der wichtigste Satz der Republik“ 

Das Grundgesetz ist nicht bombastisch, es trumpft nicht auf, es ist leise; trotzdem hat es eine Kraft entwickelt, die ihm einst kein Mensch zugetraut hat. Ohne dieses Grundgesetz wäre das wiedervereinigte Land nicht, was es geworden ist: eine leidlich lebendige Demokratie, ein passabel funktionierender Rechtsstaat, ein sich mühender Sozialstaat. Das Grundgesetz kann nicht hinweggedacht werden, ohne dass der Erfolg der Bundesrepublik entfiele. Ohne dieses Grundgesetz wäre Deutschland in schlechter Verfassung.

Das Grundgesetz wird 70 Jahre alt. Menschen in diesem Alter sind im Ruhestand. Vom Grundgesetz wünsche ich mir das nicht. Ich wünsche den Grundrechten nicht, dass sie kürzer treten. Ich wünsche unserer Verfassung nicht den Ruhestand, sondern neue Kraft und Stärke. Ich wünsche mir Grundrechte, auf die sich die Bürgerinnen und Bürger verlassen können; dazu Staatsgewalten, Gerichte, Parlamente und eine couragierte Gesellschaft, die diese Grundrechte verteidigen – gegen Entsolidarisierung, Ökonomisierungsexzesse und Datensammelwahnsinn; gegen Rassisten, Nationalisten und Ausländerhasser.

Die Grundrechte gehören zum Besten, was den Deutschen in ihrer langen Geschichte widerfahren ist. Ich wünsche mir, dass die Menschen das in zehn, 20 und 30 Jahren auch noch stolz so sagen können. Es wäre daher gut, wenn die Grundrechte die Kraft hätten, nicht nur die jungen und die mittelalten Menschen, sondern auch die ganz alten zu schützen. Ein System, das nicht in der Lage ist, sich um die Alten und Dementen gut zu kümmern, ist selber dement. Es braucht die Auferstehung wärmender Fürsorge.

Ich wünsche mir, dass das Grundgesetz das Gesetz bleibt, das Grundlage ist für alles, was dieser Staat tut. Sein erster Satz von der Unantastbarkeit der Menschenwürde ist der wichtigste Satz der Republik.

  • Gregor Gysi, Präsident der Europäischen Linken und Bundestagsabgeordneter: „Beste Verfassung“

Schon zu früheren Jubiläen der Verfassung herrschte in einer Frage meist Einigkeit: Das Grundgesetz ist die beste Verfassung in der Geschichte Deutschlands, die es je gab. Art. 1 Abs. 1 Satz 1 besagt bekanntlich: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Die einzig richtige Antwort auf die Nazi-Barbarei steht an erster Stelle. Sie bestimmt, dass der Mensch nicht zum bloßen Objekt gemacht werden darf. Jeder Mensch hat einen Eigenwert, unabhängig von seinem Entwicklungsstand und seinen Taten. Das heißt auch: Der Mensch existiert nicht um des Staates, sondern der Staat um des Menschen willen. Zwei Sätze, die fast genauso tief im Bewusstsein unserer Bevölkerung verankert sind wie der Satz über die Würde des Menschen, stehen in Art. 14 Abs. 2: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“

Dies wird in Art. 15 Abs. 1 ergänzt: „Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden.“ Es verdeutlicht, dass das Grundgesetz keine Wirtschaftsordnung vorschreibt. Was wie eine Utopie klingt, bekommt in der Wohnungsfrage höchst aktuelle Bezüge. In Berlin kämpft ein Volksbegehren für die Enteignung von Immobilienriesen, die mit ihren absurden Renditezielen hemmungslos an den Wohnbedürfnissen der Menschen verdienen.

Nachholbedarf hat das Grundgesetz bei den sozialen Grundrechten. Für mich liegt auf der Hand, dass neben dem Schutz der Wohnung auch ein Recht auf Wohnung in unserer Gesellschaft möglich sein muss. Als das Grundgesetz verabschiedet wurde, standen nach der Nazi-Diktatur politische Grundrechte im Vordergrund, nicht die sozialen. So lassen sich soziale Grundrechte nur indirekt über Art. 1 Abs. 1 Satz 1, Art. 2 und Art. 20 Abs. 1 gestalten, was nicht genügt.

  • Elke Hannack, stellvertretende Bundesvorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes: „Wir brauchen mehr politische Bildung“

Als das Grundgesetz am 23. Mai 1949 verkündet wurde, lag das menschenverachtende System des Nationalsozialismus gerade vier Jahre zurück. Der bedeutende Artikel 1 „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ bleibt die wichtigste Wertentscheidung des Staates. Begleitet wird sie durch die Definition des Staates als demokratischer und sozialer Rechtsstaat. Mit der Koalitionsfreiheit in Art. 9 Abs. 3 des Grundgesetzes ist die Gründung freier Gewerkschaften als Eckpfeiler des Sozialstaates festgeschrieben worden. Das Streikrecht und die Tarifautonomie werden daraus abgeleitet. Das Grundgesetz hat die -Gewerkschaften gestärkt. Das Grundgesetz hat sich bewährt.

Zugleich ist klar, dass es jeden Tag immer wieder neu mit Leben gefüllt werden muss. Es gilt daher auch, die im Grundgesetz verankerte Idee einer offenen und freien Gesellschaft zu verteidigen. Wir erleben, wie die Nationalradikalen das politische Klima und somit die Streitkultur in unserem Land vergiften. Was aber ist zu tun, wenn demokratische Prinzipien von einem wachsenden Teil der Gesellschaft nicht mehr als Grundlage für ein Miteinander erkannt und akzeptiert werden? Was machen wir, wenn ein ziviler, demokratischer Diskurs ins Hintertreffen gerät und oft Hass und Fake News die Debatten in den sozialen Medien prägen?

Eine Antwort auf diese Entwicklungen lautet: Wir brauchen mehr politische Bildung. Selbstverständlich muss man zunächst auf tatsächliche und vermeintliche Missstände schauen, wenn man die Krise der politischen Repräsentanz bekämpfen will. Und selbstverständlich ist politische Bildung vor allem dann erfolgreich, wenn sie kontinuierlich gefördert und umgesetzt wird. Nur so kann sie ihre wichtigste Aufgabe erfüllen: das demokratische Bewusstsein der Bürgerinnen und Bürger zu stärken.

Demokratiebildung ist ein Prozess fürs Leben, dessen Grundlagen in der Schule gelegt werden. Wir brauchen deshalb eine stärkere politische Bildung in der Schule. Gerade hier muss sich zeigen, wie lebendig das Grundgesetz noch heute ist. Die Beschäftigten im Bildungswesen sind ein zentraler Schlüssel zur Wahrung der Demokratie und der Menschenwürde. Demokratiebildung endet jedoch nicht mit dem Abschluss der Schulzeit. Gerade deshalb brauchen auch Erwachsene einen Anspruch auf Bildungszeit – und das in allen Bundesländern.

  • Kevin Kühnert, Bundesvorsitzender der Jusos: „Kein Exponat hinter Vitrinenglas“

Mit dem Grundgesetz verhält es sich wie mit der Demokratie: Beide sind nicht perfekt. Aber beide bedeuten historisch betrachtet einen bahnbrechenden Fortschritt. An beiden können wir arbeiten. Und zu beiden ist unserer Gesellschaft noch keine brauchbare Alternative eingefallen – vermutlich aus guten Gründen.

Neben seiner Funktion als Verfassung, und damit als rechtliche und politische Grundordnung unseres Zusammenlebens, besteht die Stärke des Grundgesetzes in seinem Potenzial als Gebrauchsanweisung in gesellschaftlichen Debatten. Ich möchte mir nicht vorstellen, wie viel schlimmer die Diskussionen um geflüchtete Menschen zuletzt geführt worden wären, hätten über all dem nicht die „Würde des Menschen“ sowie die „unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechte“ geschwebt. Artikel 1 unseres Grundgesetzes ist sowohl Spiegel unserer Geschichte als auch mahnender Zeigefinger, der an die daraus resultierende Verantwortung erinnert.

Andere prominente Beispiele sind die Wiederentdeckung von Artikel 15 und somit der Möglichkeit der Vergesellschaftung in der Debatte um explodierende Mietpreise. Oder auch Artikel 20 und sein Sozialstaatsprinzip, mit dem schon so manch neoliberaler Vorstoß im Keim erstickt werden konnte und den die politische Linke viel stärker argumentativ nutzen sollte. Wir müssen unser Grundgesetz häufiger als Nutzgegenstand begreifen und weniger als Exponat hinter Vitrinenglas.

Das bedeutet auch, dass das Grundgesetz nie fertig sein wird und weiter verbessert werden kann. Ein Beispiel dafür ist der jahrelange Kampf um die Verankerung von Kinderrechten. Kinder als gleichwertige Träger der Grundrechte sichtbar zu machen, ist uns Jusos und vielen anderen seit Jahren ein Anliegen. Dieses Jahr besteht endlich eine realistische Chance, das zu schaffen – das Anliegen hat es in den Koalitionsvertrag der Bundesregierung geschafft. Ich werde keine Ruhe geben, bevor dieses Ziel nicht endlich Realität geworden ist.

  • Staatsministerin Annette Widmann-Mauz, Vorsitzende der Frauen Union der CDU und Bundestagsabgeordnete: „Begeisterung für unsere Demokratie“

Die Mütter und Väter des Grundgesetzes haben die weltweit beste und überzeugendste Verfassung geschrieben. Über allem steht Artikel 1: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Die Werte unserer Verfassung bilden die Grundfesten unseres Zusammenlebens. Allein der Grundrechtekatalog ist ein großartiger Kompass für unsere Gesellschaft.

Die Begeisterung für unsere Demokratie, den Rechtsstaat, für Meinungsfreiheit, Gleichberechtigung und Menschenrechte muss allen Kindern und Jugendlichen als fester Bestandteil des Schulunterrichts und der politischen Bildung vermittelt werden. Ein friedliches Miteinander und der Zusammenhalt unserer Gesellschaft gelingen nur dann, wenn die Werte des Grundgesetzes von allen akzeptiert und gelebt werden. Wir brauchen zivilgesellschaftliches -Engagement für unsere Demokratie und eine offene Gesellschaft. Dazu gehört der Einsatz gegen Rassismus, Antisemitismus und fremdenfeindliche Vorurteile.

Unser Grundgesetz ist kein festes unveränderbares Konstrukt. Es ist eine lebende Verfassung. Als engagierte Frauenpolitikerin streite ich für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen. Im Jahr 1949 wurde die Gleichberechtigung von Mann und Frau in unserem Grundgesetz verankert. In der praktischen Umsetzung ging es nur langsam voran. Deshalb wurde 1994 Artikel 3 um den Satz ergänzt: „Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.“ Der Staat hat damit die Aufgabe einer aktiven Gleichstellungspolitik übernommen. Wir alle sind auch nach 70 Jahren immer wieder gefordert, die Lebenswirklichkeit am Grundgesetz zu messen und den Geist des Grundgesetzes mit Leben zu füllen.

  • Prof. Klaus Klemm, Bildungsforscher, Professor i. R. an der Universität Duisburg-Essen: „Individuelle Freiheit“

Ein Blick auf den langen Weg bis zur Verabschiedung des Grundgesetzes macht den Fortschritt klar, für den dieses steht. Der erste Versuch 1849 in der Frankfurter Paulskirche, den Deutschen eine Verfassung zu geben, die das Grundrecht der individuellen Freiheit sichert, scheiterte. Die Verfassung des Deutschen Reiches von 1871 kannte keine Grundrechte, erst die Weimarer Verfassung von 1919 verankerte diese. In einem Umfeld, das von der Sehnsucht nach dem untergegangenen Kaiserreich, der Faszination der russischen Revolution, später von Massenarbeitslosigkeit geprägt war, hatte diese Verfassung keinen Bestand. Erst 1949 gab es mit dem Grundgesetz einen neuen Anlauf.

Es beginnt: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“ (Art. 1 Abs. 1). Unter den Artikeln, die dies konkretisieren, sind mir folgende besonders wichtig: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.“ (Art. 3 Abs. 1), „Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ (Art. 3 Abs. 3), „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“ (Art. 14 Abs. 2), „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.“ (Art. 16a Abs. 1) und „Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“ (Art. 20 Abs. 4).

  • Annalena Baerbock, Bundesvorsitzende der -Grünen und Bundestagsabgeordnete: „Staat ist für die Bürger da“

Das Grundgesetz stellt klar, dass nicht der Bürger, die Bürgerin für den Staat, sondern der Staat für seine Bürgerinnen und Bürger da ist. Er muss verschiedenste Freiheits- und Gleichheitsrechte achten und gewährleisten. Er ist an Recht und (Grund-)Gesetz gebunden. Zentral ist dabei die Menschenwürde, die der Mensch einfach nur durch sein „Menschsein“ hat. Sie muss nicht erworben und kann vor allem auch nicht entzogen werden. Schon gar nicht vom Staat. Er darf seine Bürgerinnen und Bürger nie zum bloßen Objekt degradieren. Denn: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“

Als überzeugte Europäerin ist für mich aber auch die Präambel, ein oft  nicht beachteter Teil des Grundgesetzes, von Bedeutung. Hier steht nämlich etwas über die Motivation, aus der wir uns das Grundgesetz gegeben haben: „… von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen …“. Hier kommt zum Ausdruck, was Europa zuallererst ist: ein Friedensprojekt. Europa, genauer gesagt die Europäische Union (EU), ist das größte Friedensversprechen, das es je auf diesem Kontinent gab. Deutschland hat auch aufgrund seiner Geschichte der europäischen Integration unendlich viel zu verdanken. Die Grundwerte der EU – Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte – finden sich alle auch im Grundgesetz. Die Präambel „charakterisiert das Wesen des Grundgesetzes”, so Carlo Schmid, einer der „Väter“ des Grundgesetzes. Nehmen wir sie als Auftrag für ein vereintes Europa ernst.