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Unterstützung statt Kontrolle

Der IQB-Bildungstrend 2016 ist für die Bildungspolitik ernüchternd ausgefallen. Laut der Studie haben sich die Leistungen der Grundschülerinnen und -schüler in Deutsch und Mathematik in den meisten Bundesländern verschlechtert.

Solche Hiobsbotschaften führen zu den immer gleichen Reflexen: Konservative beklagen das „Fehlen des Leistungsgedankens“ und diffamieren reformpädagogische Ansätze als „Kuschelpädagogik“. Einige Bildungspolitikerinnen und -politiker denken über verstärktes Bildungsmonitoring in ihrem Bundesland nach. Aus Sicht der GEW sind dies keine angemessenen Reaktionen auf die Ergebnisse der neuesten Ausgabe der Ländervergleichsstudie Bildungstrend, die das Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) für die Primarstufe alle fünf Jahre durchführt. Um die Ursachen der aktuell schlechteren Lernergebnisse zu erklären, ist es notwendig, sich die Lern- und Arbeitsbedingungen an den Grundschulen näher anzuschauen.

Die Grundschule – vor rund 100 Jahren gegründet – hatte von Anfang an mit dem Widerspruch zwischen gesellschaftlichem Anspruch und Realität zu kämpfen. Sie war als Schule für alle gedacht und fühlte sich immer schon der Reformpädagogik verpflichtet. Im Unterschied zu weiterführenden Schulen setzte man hier auf ganzheitliches Lernen und Lebensweltbezug. Dies lässt sich sehr gut entwicklungspsychologisch begründen: Grundschülerinnen und -schüler sind eben keine kleinen Gymnasiastinnen und Gymnasiasten, sondern junge Kinder mit ganz spezifischen Entwicklungsbedürfnissen.

Dem Anspruch, Schule für alle Kinder zu sein, konnte die Grundschule nie ganz gerecht werden. Von Anfang an wurde die Schulform nicht in die Lage versetzt, alle Kinder mit ihren ganz unterschiedlichen Lernvoraussetzungen gleichermaßen zu bilden. Zu große Klassen, fehlende Räume, eine unzureichende Lehrkräftebildung und fehlende Unterstützungssysteme führten von Beginn an dazu, dass Kinder aus Armutsverhältnissen verstärkt der sogenannten Hilfsschule (heute Förderschule Lernen) zugeführt wurden. Auch heute hat die Grundschule die widersprüchliche Aufgabe, einerseits allen Kindern die notwendige Grundbildung zu vermitteln und sie individuell in ihrem Lernen zu unterstützen, sie aber gleichzeitig auf die Separierung im gegliederten Schulsystem vorzubereiten.

„Leider wurde das ganzheitliche und soziale Lernen in der Grundschule als unwissenschaftlich diskreditiert.“

Der Kernanspruch bleibt dessen ungeachtet, eine Schule für alle Kinder in ihrer ganzen Vielfalt zu sein. Die komplexer werdende soziale Realität und sich stetig verändernde Bedingungen des Aufwachsens von Kindern erfordern auch pädagogische, personelle und materielle Anpassungen. Armutserfahrungen, zu wenig Bewegung, verstärkter Medienkonsum, psychische Belastungen – Kindheit ist im Wandel, darauf muss die Grundschule reagieren können.

Die Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern muss Bezug auf die veränderte gesellschaftliche Realität sowie auf lern- und entwicklungspsychologische Grundlagen nehmen. Leider wurde das ganzheitliche und soziale Lernen in der Grundschule als „unwissenschaftlich“ diskreditiert. „Evidenzbasierung“ lautete das Zauberwort auch für die Grundschuldidaktik. Man setzte einseitig auf die Unterrichts- und Schulentwicklung auf der Grundlage von Testdaten.

Selbstverständlich sollte überprüft werden können, ob und welche Kompetenzen Kinder in der Grundschule erwerben – auch mit Testverfahren. Aber unter dem Label „Evidenz“ kommt es nicht selten mittels unreflektiert eingesetzter Test- und Trainingsverfahren zu einer Verarmung der Schul- und Unterrichtskultur. Es besteht die Gefahr, dass ein umfassender, auf Demokratie und Persönlichkeitsentwicklung ausgerichteter Bildungsansatz zugunsten einer reinen Lerntechnologie geschleift wird.

„Es fehlt ein nachhaltiges, verlässliches Unterstützungssystem, das Jugendhilfe, schulpsychologischen Dienst und Schule sinnvoll vernetzt.“

Lernen findet in Beziehungen statt. Kinder, die wenig Unterstützung und Rückhalt in ihrem familiären Umfeld erfahren, brauchen in der Schule mehr Anleitung und Rückmeldung. Dies kann in großen Klassen nicht gelingen. So ist die in vielen Leistungsstudien immer wieder getroffene Feststellung, die Klassengröße sei nicht entscheidend für die Qualität des Lernens, nur die halbe Wahrheit. Ein Kernproblem großer Lerngruppen ist, dass für die spezifischen pädagogischen Bedürfnisse der Kinder die Zeit fehlt. Um allen gerecht zu werden, brauchen Lehrkräfte mehr Zeit für jedes einzelne Kind.

Weiteres Problem: der immer größer werdende Lehrkräftemangel, gerade in der Grundschule. Es besteht die Gefahr, dass die Didaktik der Primarstufe als wichtige Grundlage der pädagogischen Arbeit in den Hintergrund gedrängt wird. Wir brauchen eine solide didaktische Weiterbildung der Quer- und Seiteneinsteiger, die den Umgang mit heterogenen Lerngruppen und inklusive Bildung im Blick hat. Eine Schmalspurfortbildung auf der Grundlage veralteter didaktischer Konzepte oder einer reinen Lerntechnologie geht in die falsche Richtung.

Viele Kollegien fühlen sich mit den zunehmenden sozialen Herausforderungen alleingelassen. Es fehlt ein nachhaltiges, verlässliches Unterstützungssystem, das Jugendhilfe, schulpsychologischen Dienst und Schule sinnvoll vernetzt. Es fehlen ausreichende personelle und strukturelle Ressourcen. Dass die Grundschule hier Probleme hat, hat der IQB-Bildungstrend bestätigt.

In dieser Situation die Qualitätsfrage allein mit verstärkten Kontrollen des Outputs zu verknüpfen, ist der falsche Weg. Die Grundschule muss endlich den Stellenwert bekommen, der ihr als Schule für alle zusteht. Sie braucht gut aus- und fortgebildete Fachkräfte, die gerecht bezahlt werden, schulinterne Fortbildung zur Unterrichts- und Schulentwicklung, verlässliche Unterstützungssysteme zum Umgang mit schwierigen Erziehungssituationen und eine gute materielle und räumliche Ausstattung. Was sie nicht braucht: verstärktes Monitoring, dem keine Unterstützungsmaßnahmen folgen. Die GEW steht bereit, an einem gemeinsamen Programm einer echten Qualitätsverbesserung an den Grundschulen mitzuarbeiten!