Sitze im Flieger nach Hyderabad auf dem Weg zu meinem Einsatzort. Über die Stiftung der GEW Fair Childhood habe ich von den Camps erfahren, in dem ehemalige Kinderarbeiter leben. Sie werden dort versorgt und erhalten Unterricht. In einem sogenannten Bridge Camp werde ich Englisch unterrichten. Die indische Organisation MVF – kurz für Mamidipudi Venkataranygaiya Foundation – arbeitet u.a. mit der deutschen Organisation Fair Childhood zusammen. Brigde steht für das Zwischenstadium zwischen Child Labour und den normalen Schulbesuch wieder auf-zunehmen. Ich habe 17 Jahre an staatlichen Realschulen unterrichtet und bin seit 2 Jahren nicht mehr im Schuldienst.
Der Blick aus dem Fenster zeigt ein unendliches Meer von Lichtern. Hyderabad liegt auf der Dekkan-Hochebene in Zentralindien. Zwei Städte sind zu einer verschmolzen, es leben dort fast 12 Millionen Menschen.
Schwieriges Ankommen
In der Ankunftshalle halte ich Ausschau nach einer Person von der Organisation MVF, die ein Schild mit meinem Namen hochhält. Nach einiger Sucherei entdecke ich meinen Namen „Judith“. Nach einer kurzen Begrüßung, fährt er mich zu meiner Unterkunft, es ist nach 24h und es herrscht immer noch viel Verkehr. Nach gut 1,5 h sind wir da – ein ruhiges Wohnviertel. Die Hausbesitzer haben auf mich gewartet. Kurzes Willkommen, Frühstücken könnte ich in der Nähe und bis morgen. Der Sohn des Hauses zeigt mir mein Zimmer. Ich trete ein und der Anblick ist gewöhnungsbedürftig. Lauter Sperrmüllmöbel mit sich abhebender Holzverfugung, weiß übergepinseltes Braun, angeklebtes Bein auf einem
Kommodenmöbel auf dem absurderweise eine Mikrowelle steht. Das Bad ist ähnlich gewöhnungsbedürftig, sprich es könnte sauberer sein. Der Sohn kommt noch mal und ich bitte um eine Bodenmatte und zeige ihm den Zustand des Zimmers – er sagt, sie hätten erst heute Bescheid bekommen, dass ich käme. Aus Erfahrung weiß ich, Inder darf man möglichst nicht direkt auf einen Mangel ansprechen. Also nickt er nur, wackelt mit dem Kopf und kommt immerhin mit einer Bastmatte zurück. Das Bettzeug ist sauber. Es ist fast 2h morgens, die Moskitos schwirren durch den Raum, mit letzter Kraft finde ich meinen Mückenspray und sinke erschöpft auf das harte Bett. Am nächsten Tag packe ich meine Sachen. Hier bleibe ich nicht. Freundlicherweise lädt mich die Hausherrin zum Frühstück ein, da es gestern Abend so spät war. Sie hat keine Zeit hat mich im Viertel herumzuführen, um mir die Restaurants und Läden zu zeigen – ihre Tochter kommt aus den USA zu Besuch. Der Gärtner schneidet und gießt den Vorgarten, es sieht wie geleckt aus. Eine Hausbedienstete, eine ältere Frau herrscht ihn an und wirft ihm einen Besen vor die Tür. Der Mann sagt nichts, nimmt den hingeschmissenen Besen und macht sich ans Kehren. Offensichtlich hat die Hausbedienstete einen höheren Status als er.
Um 10 Uhr soll ich abgeholt werden, um zum Head Office der Organisation MVF – kurz für Mamidipudi Venkatarangaiya Foundation gebracht zu werden. Ich sitze pünktlich im Wohnzimmer und denke, was mich wohl erwartet… es ist mein erstes Zusammentreffen mit der MVF. Ich lerne die 1. Lektion für alle Westler: Warten und nicht ungeduldig werden. Die indische Zeit läuft anders. Waiting, waiting. Kurz vor 11h taucht jemand auf. Wir tauschen die Namen aus und ich deute auf meinen Koffer, der mit ins Auto soll. Der Mann macht keine Anstalten den Koffer aufzunehmen und sagt etwas von Driver. Auch das habe ich vergessen: in Indien herrscht eine strenge, hierarchische Aufgabenteilung. Keinem Brahmanen kommt es in den Sinn, einen Koffer zu tragen. Das ist etwas für die unteren Kasten. Richtig. Später erzählt er mir, dass er aus der Brahmanenkaste stammt. Kaste hin oder her, mein Koffer soll mit, also greife ich ihn und trage ihn raus. Der Driver macht keine Anstalten aus dem klimatisierten Auto zu steigen, obwohl mein Abholer ihn ruft. Nun muss der Gartenboy herhalten. Er wird dazu bestimmt meinen Koffer zu tragen. Immerhin hilft der Driver beim Einladen. Das finde ich alles sehr interessant.
Das Head Office ist in West Marredpally, Secunderabad, die Stadt, die mit Hyderabad zusammen gewachsen ist, in einem Apartmenthaus in einer Seitenstraße. Von der Tiefgarage geht ein Aufzug nach oben – er hat ein Ziehgitter, wie man es aus französischen Spielfilmen kennt. Das Office ist richtig indisch mit vielen Blechschränken, Haufen von aufgetürmten Akten und Propellern an der Decke. Ich werde durch einen Handtuchvorhang in ein hinteres Zimmer geführt. Dort erwarten mich drei Männer von der Organisation. Ein vierter gesellt sich dazu. Wir tasten uns erstmal etwas ab – fragen uns gegenseitig nach Motivation und Arbeitsweise. MVF sorgt dafür, dass Kinder, die sich in Arbeitsverhältnissen befinden, in die Schule gehen. From work to school. Ich frage, wie sie damit umgehen, da die Kinder auch zum Familienverdienst beitragen mit ihrer Arbeit. Dhananjay, einer der Mitarbeiter nennt das das ‚poverty argument‘ (,wo also mit der Armut argumentiert wird). Das poverty argument geht davon aus, dass die Eltern kein Interesse haben, ihre Kinder zur Schule zu schicken. Das Gegenteil ist der Fall, sagt er. Wenn sie die Gelegenheit dazu bekommen, ihre Kinder zur Schule zu schicken, heißen sie sie mit offenen Armen willkommen selbst bei finanzieller Einschränkung. Häufig wissen die Eltern einfach nicht, wie die behördlichen Hürden zu nehmen sind; wie die Herbeischaffung einer Geburtsurkunde, eines Einkommensnachweises oder wie die Prozedur der Anmeldung zu bewältigen ist. Da die meisten Eltern Analphabeten sind, stellt das für sie eine große Hürde dar. Sie wissen eher wie man ein Kind zu einem Arbeitgeber bringt, als wie man es für die Schule anmeldet. Ein weiterer Grund, dass die Kinder nicht zur Schule gehen, ist die soziale Diskriminierung aufgrund des Kastenwesens. Selbst die Lehrer schauen auf die Kinder aus den unteren Kasten herab und grenzen sie sozial aus: Sie bekommen keine Schulbank, müssen auf dem Boden sitzen usw. Dazu kommt noch die gesellschaftliche Akzeptanz, von Kinderarbeit. Das Nicht-zur-Schule-schicken ist also einfacher und wird akzeptiert. MFV nennt es ‚social norm‘. Dennoch haben Umfragen gezeigt, dass selbst in ländlichen Gegenden mit schlechtem Bildungsangebot 98% der Eltern dafür sind, dass ihre Söhne zur Schule gehen und 89% sind für den Schulbesuch der Töchter. Wenn diese Hürde genommen wird, entwickeln die Kinder Selbstwertgefühl und fühlen sich gewertschätzt. Das sind gute Argumente, die mir einleuchten.
Kommodenmöbel auf dem absurderweise eine Mikrowelle steht. Das Bad ist ähnlich gewöhnungsbedürftig, sprich es könnte sauberer sein. Der Sohn kommt noch mal und ich bitte um eine Bodenmatte und zeige ihm den Zustand des Zimmers – er sagt, sie hätten erst heute Bescheid bekommen, dass ich käme. Aus Erfahrung weiß ich, Inder darf man möglichst nicht direkt auf einen Mangel ansprechen. Also nickt er nur, wackelt mit dem Kopf und kommt immerhin mit einer Bastmatte zurück. Das Bettzeug ist sauber. Es ist fast 2h morgens, die Moskitos schwirren durch den Raum, mit letzter Kraft finde ich meinen Mückenspray und sinke erschöpft auf das harte Bett. Am nächsten Tag packe ich meine Sachen. Hier bleibe ich nicht. Freundlicherweise lädt mich die Hausherrin zum Frühstück ein, da es gestern Abend so spät war. Sie hat keine Zeit hat mich im Viertel herumzuführen, um mir die Restaurants und Läden zu zeigen – ihre Tochter kommt aus den USA zu Besuch. Der Gärtner schneidet und gießt den Vorgarten, es sieht wie geleckt aus. Eine Hausbedienstete, eine ältere Frau herrscht ihn an und wirft ihm einen Besen vor die Tür. Der Mann sagt nichts, nimmt den hingeschmissenen Besen und macht sich ans Kehren. Offensichtlich hat die Hausbedienstete einen höheren Status als er.
Zeit ist relativ
Um 10 Uhr soll ich abgeholt werden, um zum Head Office der Organisation MVF – kurz für Mamidipudi Venkatarangaiya Foundation gebracht zu werden. Ich sitze pünktlich im Wohnzimmer und denke, was mich wohl erwartet… es ist mein erstes Zusammentreffen mit der MVF. Ich lerne die 1. Lektion für alle Westler: Warten und nicht ungeduldig werden. Die indische Zeit läuft anders. Waiting, waiting. Kurz vor 11h taucht jemand auf. Wir tauschen die Namen aus und ich deute auf meinen Koffer, der mit ins Auto soll. Der Mann macht keine Anstalten den Koffer aufzunehmen und sagt etwas von Driver. Auch das habe ich vergessen: in Indien herrscht eine strenge, hierarchische Aufgabenteilung. Keinem Brahmanen kommt es in den Sinn, einen Koffer zu tragen. Das ist etwas für die unteren Kasten. Richtig. Später erzählt er mir, dass er aus der Brahmanenkaste stammt. Kaste hin oder her, mein Koffer soll mit, also greife ich ihn und trage ihn raus. Der Driver macht keine Anstalten aus dem klimatisierten Auto zu steigen, obwohl mein Abholer ihn ruft. Nun muss der Gartenboy herhalten. Er wird dazu bestimmt meinen Koffer zu tragen. Immerhin hilft der Driver beim Einladen. Das finde ich alles sehr interessant.
Das Head Office ist in West Marredpally, Secunderabad, die Stadt, die mit Hyderabad zusammen gewachsen ist, in einem Apartmenthaus in einer Seitenstraße. Von der Tiefgarage geht ein Aufzug nach oben – er hat ein Ziehgitter, wie man es aus französischen Spielfilmen kennt. Das Office ist richtig indisch mit vielen Blechschränken, Haufen von aufgetürmten Akten und Propellern an der Decke. Ich werde durch einen Handtuchvorhang in ein hinteres Zimmer geführt. Dort erwarten mich drei Männer von der Organisation. Ein vierter gesellt sich dazu. Wir tasten uns erstmal etwas ab – fragen uns gegenseitig nach Motivation und Arbeitsweise. MVF sorgt dafür, dass Kinder, die sich in Arbeitsverhältnissen befinden, in die Schule gehen. From work to school. Ich frage, wie sie damit umgehen, da die Kinder auch zum Familienverdienst beitragen mit ihrer Arbeit. Dhananjay, einer der Mitarbeiter nennt das das ‚poverty argument‘ (,wo also mit der Armut argumentiert wird). Das poverty argument geht davon aus, dass die Eltern kein Interesse haben, ihre Kinder zur Schule zu schicken. Das Gegenteil ist der Fall, sagt er. Wenn sie die Gelegenheit dazu bekommen, ihre Kinder zur Schule zu schicken, heißen sie sie mit offenen Armen willkommen selbst bei finanzieller Einschränkung. Häufig wissen die Eltern einfach nicht, wie die behördlichen Hürden zu nehmen sind; wie die Herbeischaffung einer Geburtsurkunde, eines Einkommensnachweises oder wie die Prozedur der Anmeldung zu bewältigen ist. Da die meisten Eltern Analphabeten sind, stellt das für sie eine große Hürde dar. Sie wissen eher wie man ein Kind zu einem Arbeitgeber bringt, als wie man es für die Schule anmeldet. Ein weiterer Grund, dass die Kinder nicht zur Schule gehen, ist die soziale Diskriminierung aufgrund des Kastenwesens. Selbst die Lehrer schauen auf die Kinder aus den unteren Kasten herab und grenzen sie sozial aus: Sie bekommen keine Schulbank, müssen auf dem Boden sitzen usw. Dazu kommt noch die gesellschaftliche Akzeptanz, von Kinderarbeit. Das Nicht-zur-Schule-schicken ist also einfacher und wird akzeptiert. MFV nennt es ‚social norm‘. Dennoch haben Umfragen gezeigt, dass selbst in ländlichen Gegenden mit schlechtem Bildungsangebot 98% der Eltern dafür sind, dass ihre Söhne zur Schule gehen und 89% sind für den Schulbesuch der Töchter. Wenn diese Hürde genommen wird, entwickeln die Kinder Selbstwertgefühl und fühlen sich gewertschätzt. Das sind gute Argumente, die mir einleuchten.