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Nord- und Ostsyrien

Unterricht an der Frontlinie

Der Rat für Bildung und Ausbildung Nord- und Ostsyrien, der mit dem deutschen Bildungsministerium vergleichbar ist, entwickelt in der kurdischen Autonomieregion Rojava ein neues Schulsystem, um eine demokratische Gesellschaft zu fördern.

Der Krieg in Syrien hat vielerorts Ruinen hinterlassen. Zerstört wurden auch zahlreiche Schulen. (Foto: IMAGO/Andia)

E&W hat mit der Ko-Vorsitzenden Kewser Doko und dem Ratsmitglied Dilber Yousif gesprochen. 

  • E&W: Wie ist die Situation in Nord- und Ostsyrien aktuell?

Kewser Doko: Die Region steht vor Herausforderungen in allen wirtschaftlichen, sozialen, politischen und sicherheitspolitischen Bereichen. Das syrische Regime verhindert ihre Entwicklung seit Jahrzehnten. Zusätzlich belasten die US-Sanktionen und der Verfall des syrischen Pfunds die Menschen. Es gibt keine internationale Hilfe. In dem Gebiet der Selbstverwaltung liegt auch das Flüchtlingslager Al-Hol, in dem Tausende Familien von Mitgliedern der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) leben. IS-Zellen verüben von Zeit zu Zeit immer noch Attentate und Sprengstoffanschläge. Die wohl größte Bedrohung ist jedoch die Türkei, die Gebiete Nord- und Ostsyriens seit Jahren besetzt, destabilisiert und immer wieder angreift. Manchmal fliegen die türkischen Kampfdrohnen wochenlang.

  • E&W: Was bedeutet das alles für das Bildungs-system?

Doko: Die Besetzung durch die Türkei und ihre Milizen hat Tausende Schülerinnen und Schüler sowie Studierende in sicherere Gegenden vertrieben. Viele leben mit ihren Familien in eilig errichteten Lagern, in denen der Bau von Schulen nicht einfach ist. Der Bildungsrat stellte zunächst Zelte zur Verfügung und baute dann Unterrichtsräume aus Beton. Etliche Kinder und Jugendliche dort können aber immer noch nicht unterrichtet werden. Andere Schulen wurden vorübergehend als Notunterkünfte genutzt und die Schülerinnen und Schüler auf andere Bildungseinrichtungen verteilt – was dort zu einer starken Überlastung der Klassen führte. Einige Schulen beherbergen noch immer Geflüchtete.

Dilber Yousif: Schulen an der Frontlinie mit türkischen Milizen sind nach wie vor in ständiger Gefahr. Von Zeit zu Zeit sind sie wahllosem Beschuss ausgesetzt. Eltern haben oft Angst, ihre Kinder in diese Schulen zu schicken. Diese Sicherheitsbedingungen sowie die schwierige Lebenssituation einiger Familien, vor allem in den Lagern, zwingen Schülerinnen und Schüler dazu, die Schule zu verlassen und Arbeit zu suchen, anstatt zu lernen.

  • E&W: Was konnte der Bildungsrat trotzdem schon erreichen?

Yousif: Der anhaltende Krieg hat 411 Schulen teilweise und 210 Schulen vollständig zerstört. Es ist zwar bereits gelungen, Dutzende zu renovieren und wieder aufzubauen, allerdings eher notdürftig. Die zerstörten Schulgebäude zu sanieren, würde mindestens 15 Millionen US-Dollar kosten. Dass wir zu wenige Schulen haben, ist eines unserer größten Probleme. In einigen Klassen sind 50 bis 70 Kinder. Trotzdem gibt es Schritt für Schritt Verbesserungen: Aktuell haben wir 838.086 Schülerinnen und Schüler, 4.356 Schulen und 39.696 Lehrkräfte, außerdem drei Universitäten. Unser gesamtes Bildungssystem ist aber noch entwicklungsbedürftig – etwa was Lehrpläne, die Lehrkräfteausbildung sowie die Ausstattung der Schulen mit moderner Technik und Bildungsmaterialien angeht.

In der Region Rojava wurden neue Schulen wie diese hier in Kobanê gebaut, für die die Initiative „Eine Schule für Kobanê“ Spenden gesammelt hat. (Foto: Schule für Kobanê)
  • E&W: Die demokratische Selbstverwaltung baut ein alternatives Bildungssystem auf. Was kennzeichnet dieses?

Yousif: Der Krieg in Syrien hat jahrzehntealte Wurzeln, ist aber auch das Ergebnis eines gescheiterten Bildungssystems. Der Lehrplan des Regimes in Damaskus ignorierte die kulturelle Vielfalt der Bevölkerungsgruppen im Land, zu der Kurden, Syrer, Assyrer, Armenier, Turkmenen und Tscherkessen gehören. Das Bildungssystem der Autonomen Administration soll menschliche Werte und Menschenrechte sowie eine Kultur der religiösen und ethnischen Vielfalt vermitteln. Alle sollen sich respektieren. Das ist nicht einfach, denn viele Menschen hier sind mit Rassismus aufgewachsen.

Doko: Der Bildungsrat hat mit der Entwicklung von Lehrplänen in drei Sprachen begonnen: Arabisch, Kurdisch und Syrisch, um in allen Muttersprachen zu unterrichten. Jeder darf die Sprache der anderen erlernen, was den Multikulturalismus in der Region stärken soll. Aus diesem Grund soll auch das Fach Kultur und Ethik eingeführt werden. Die Geschichte aller Völker der Region soll objektiv und gleichrangig gelehrt werden. Das Thema Frauenforschung soll in den Lehrplan, um den Beitrag von Frauen in der Geschichte und die Bedeutung ihrer Rolle in der Gesellschaft aufzuzeigen.

  • E&W: Welche Unterstützung brauchen Sie dazu neben dem Aufbau und der Ausstattung von Schulen?

Doko: Ein großes Problem ist die fehlende Anerkennung der Abschlusszeugnisse, die nicht vom syrischen Bildungsministerium ausgestellt wurden. Man kann damit nicht außerhalb Nord- und Ostsyriens studieren. Wir benötigen Hilfe, unser Projekt und unsere Ziele weltweit bekannt zu machen, weil wir möchten, dass uns irgendwann auch UN-Organisationen wie UNESCO und UNICEF unterstützen. Wir würden gern mehr über die deutschen Erfahrungen mit dem Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg erfahren und hoffen, gute Beziehungen zum Bildungswesen in Deutschland und zur GEW aufzubauen. Wir wünschen uns auch Stipendien für unsere Studierenden an deutschen Hochschulen oder einen Lehrkräfteaustausch. Ein wichtiges Thema, bei dem wir von anderen lernen wollen, ist die Kinderpsychologie: Wie können Lehrkräfte mit vom Krieg traumatisierten Kindern umgehen?  

In Nord- und Ostsyrien leben Kurden, Araber, Syrer, Armenier, Turkmenen, Tscherkessen sowie Muslime, Christen und Jesiden multikulturell zusammen. Nach Ausbruch des syrischen Bürgerkrieges 2011 erklärte die Bevölkerung 2013 ihre Selbstverwaltung, 2016 folgte die Deklaration eines föderalen Systems. Der kurdische Name der Region ist Rojava (Westkurdistan). Die Autonome Administration arbeitet an der Gleichstellung aller Menschen, vor diesem Hintergrund wurde auch das neue Schulsystem entwickelt. Das syrische Regime lehnt die basisdemokratischen Strukturen ab, auch international ist die Selbstverwaltung nicht anerkannt.