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Sozialstaat

Übertreibungen, Lücken und Irrtümer

Die neue Bundesregierung hat sich einige rentenpolitische Aufgaben gestellt. Manche davon sind sinnvoll wie die Stabilisierung des Rentenniveaus, andere weisen in die falsche Richtung wie die Förderung privater Vorsorge bei Kindern und Jugendlichen.

Kürzungen in der Alterssicherung führen nicht zu geringeren staatlichen Ausgaben, sondern zu Kostenverschiebungen. So werden die wahren Kosten verschleiert, da sie nicht mehr im öffentlichen Teil der Alterssicherung auftauchen. (Foto: IMAGO/Bihlmayerfotografie)

Angesichts einer alternden Bevölkerung ist in der Tat mit einem steigenden Beitragssatz zur Rentenversicherung zu rechnen. Das ist schlicht der Preis für Renten, mit denen auch die heutigen Beitragszahlerinnen und -zahler rechnen können sollten. Der Anstieg der Beiträge kann durch eine gute Lage am Arbeitsmarkt, genauer: durch ein hohes Niveau sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung, gemildert werden.

Dazu können der weitere Ausbau der professionellen Kinderbetreuung und eine bessere Integration Arbeitsloser beitragen, aber auch die Ermöglichung langer Berufskarrieren, sodass auch ältere Beschäftigte gesund und gern bis zur Rente im Job bleiben (können). Zudem sollte nicht vergessen werden: Die Rentenversicherung ist auch in der Vergangenheit mit deutlichen Verschiebungen des Verhältnisses von Beitragszahlerinnen und -zahlern sowie Rentnerinnen und Rentnern klargekommen. Die gegenwärtigen Herausforderungen dürfen nicht kleingeredet werden. Aber der Blick in die Vergangenheit zeigt, dass Rentenpolitik auf Herausforderungen reagieren kann und Alarmismus fehl am Platz war und ist.

Die Renten sind in den vergangenen Jahren in der Tendenz langsamer gestiegen als die Löhne.

Eine mögliche Konsequenz aus der Forderung nach geringeren Beitragssatzsteigerungen ist die weitere Absenkung des Rentenniveaus. Gegenwärtig liegt diese Maßzahl, die das Verhältnis einer Rente nach 45 Jahren Beitragszahlung zum Durchschnittsverdienst abbildet (nach Sozialabgaben, vor Steuern) bei rund 48 Prozent. Dieser Wert ist das Ergebnis politischer Entscheidungen Anfang des Jahrtausends. Die Beschlüsse rückten schon damals die Beitragssatzentwicklung ins Zentrum der Rentenpolitik, beinhalteten die schrittweise Erhöhung des Renteneintrittsalters von 65 auf 67 Jahre und bewirkten eine Senkung des Rentenniveaus. Die Renten sind im Ergebnis seither in der Tendenz langsamer gestiegen als die Löhne. Eine Stabilisierung des Rentenniveaus bedeutet, dass sich die Renten mit den Löhnen entwickeln, ein Verzicht auf die Stabilisierung hieße entsprechend, dass Lohn- und Rentenentwicklung wieder unterschiedlich verlaufen.

Würde durch eine Verringerung des Beitragssatzanstiegs die Alterssicherung wirklich weniger kosten? Wohl kaum. Leistungseinschränkungen in der Rentenversicherung führen dazu, dass relativ weniger Beitragsmittel gebraucht werden. Zugleich steigt aber die Notwendigkeit für Beschäftigte im mittleren Alter sowie für Berufseinsteigerinnen und -einsteiger, privat vorzusorgen. Kürzungen in der Rentenversicherung führen damit entweder zu Sicherungslücken oder zu Kostenverschiebungen – wenn ein bestimmtes Sicherungsziel erreicht werden soll, muss dafür das entsprechende Geld in die Hand genommen werden. Alterssicherung wird also nicht unbedingt billiger. Stattdessen würden die wahren Kosten verschleiert, da sie nicht mehr im öffentlichen Teil der Alterssicherung dokumentiert werden. Außerdem führen Kürzungen in der Rentenversicherung zu neuen Verteilungsfragen: Wer sorgt wie vor? Wer wird wie gefördert?

Die Debatte um die Zukunft der Rente ist auch ein Verteilungskonflikt.

Muss die Rentenversicherung nicht bereits heute durch Zuschüsse aus dem Bundeshaushalt gestützt werden, um die steigenden Ausgaben zu stemmen? Dieses Argument stimmt so nicht. Die Rentenversicherung baut auf einem detaillierten gesetzlichen Regelwerk auf. Dieses legt auch die Bestimmung der Bundeszuschüsse fest. Diese dienen verschiedenen Zwecken wie der Finanzierung von Leistungen, die nicht durch Beiträge gegenfinanziert sind, und werden Jahr für Jahr angepasst. Sie werden aber nicht für den Ausgleich eines Defizits verwendet. Wenn sich abzeichnet, dass die Einnahmen der Rentenversicherung nicht ausreichen, ist das flexible Element im System der Beitragssatz.

Tatsächlich sind in den vergangenen Jahren die Zuschüsse aus dem Bundeshaushalt absolut gestiegen. Das folgt aus den Anpassungsregeln und liegt in der Natur der Sache: Auch die Einnahmen und Ausgaben der Rentenversicherung sind gewachsen, ebenso Wirtschaftsleistung und Bundeshaushalt. Gemessen am Haushalt der Rentenversicherung und an den Steuereinnahmen sind die Bundeszuschüsse in den vergangenen Jahren stabil geblieben oder sogar gesunken.

Schließlich: In der politischen und medialen Debatte wird immer wieder mit Begriffen wie „nachhaltig“, „tragfähig“ oder „generationengerecht“ hantiert. Hier ist vor allem dreierlei festzuhalten: Erstens sind diese Begriffe zumindest in der Rentenpolitik nicht wissenschaftlich klar definiert. Sie tragen damit immer auch eine Wertung oder Vermutung in sich, was in der Gesellschaft, speziell von den Beitragszahlerinnen und -zahlern, als tragbar und fair empfunden wird oder die Arbeitgeber als Arbeitskosten tragen wollen. Es geht also um gesellschaftliche Debatten darüber, was wir uns in der Alterssicherung leisten möchten – und damit auch um Verteilungskonflikte.

Alterssicherung sollte nicht nur finanziell, sie muss auch sozial nachhaltig sein.

Zweitens werden die Begriffe häufig in Kontexten verwendet, in denen die Bewertung „nicht nachhaltig“ dazu führt, dass die gesetzliche Rentenversicherung geschwächt und Vorsorge privatisiert werden soll – sie werden also für bestimmte Interessen vereinnahmt. Und drittens sollte es nicht nur um finanzielle „Nachhaltigkeit“ gehen – Alterssicherung muss auch sozial nachhaltig sein, also auch für jüngere Menschen die Aussicht auf eine gute Absicherung bieten.

Die rentenpolitische Debatte ist teils von Übertreibungen („Kollaps“), teils von Missverständnissen (Rolle des Steuerzuschusses), teils aber auch blinden Flecken in der Debatte geprägt. Eine Auslassung betrifft die Einsicht, dass es sich in der Rentenpolitik um Verteilungsfragen handelt, die sich im Übrigen nicht auf ein einfaches „Alt gegen Jung“ reduzieren lassen. Eine zweite ist aber noch gravierender, denn hinter der Diskussion über die Finanzierung bleiben die doch eigentlich zentralen Fragen versteckt: Was ist eine faire Rente nach einer langen Erwerbsbiografie? Wie wollen wir Lebensläufe, die vom idealtypischen Erwerbsverlauf abweichen, gut absichern? Was wollen wir in der Alterssicherung erreichen und was ist uns eine gute Sicherung wert?